10. September 2021

“Alle sehen nun: Wir fahren gegen die Wand”

10.09.2021 — Zürich, Schweiz / Kapstadt, Südafrika

Ein elektronischer Briefwechsel mit Lena Thiede darüber, wie der Planet den Menschen erhalten bleibt — und umgekehrt. 

"Trotz der eindeutigen wissenschaftlichen Beweislage fahren Regierungen noch immer eine Politik, die den Planeten derzeit auf 3-4 Grad Erwärmung zusteuern lässt." Bild: Planet A.

Ariane Lüthi: Liebe Lena, ich bin mir je länger je unsicherer, ob wir uns nicht alle einer gefährlichen Illusion hingeben: Dass wir nur etwas nachhaltiger konsumieren, etwas grünere Technologien benutzen, in etwas bessere Unternehmen investieren müssen und so die Erderwärmung unter 2 Grad halten können.

Lena Thiede: Der letzte IPCC Bericht vom August 2021 zeichnet das ernüchternde Bild eines Planeten, der von der Spezie Mensch in nur wenigen hundert Jahren massiv verändert wurde und ein neues geologisches Zeitalter einläutet, das Anthroprozän. Trotz der eindeutigen wissenschaftlichen Beweislage fahren Regierungen noch immer eine Politik, die den Planeten derzeit auf 3-4 Grad Erwärmung zusteuern lässt.

Strengere Regulatorik wird zentral sein, um unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu erneuern — die EU ist hier ein Treiber aber insgesamt fehlt Tempo! Auch neue Technologien werden ein wichtiger Teil der Antwort sein — wir brauchen ein Software- und ein Hardware-Update unserer Wirtschaft. Dies um beispielsweise erneuerbare Energie in größeren Mengen zur Verfügung stellen und speichern zu können, den Flugverkehr, die Schifffahrt und auch den Bausektor zu dekarbonisieren.

Natürlich kann jede*r von uns auch seinen Teil leisten: Konsum- und Mobilitätsentscheidungen überdenken, Druck auf die Politik ausüben, Geld anders anlegen. Aber es wird auch um die Diskussion gehen, wie gutes Leben in Zukunft aussieht. Die Transformation, die wir vor uns haben, wird radikaler sein, als viele derzeit meinen.

Lüthi: Du bist auf Wirkungsmessung und die Auswertung wissenschaftlicher Daten spezialisiert. In welchen Berichen unterscheidet sich dieses „gute Leben“ der Zukunft am krassesten von dem, was wir heute als normal betrachten? 

Thiede: Heute beruht unser Wohlstand auf der Ausbeutung endlicher Ressourcen, unsere Business- und Investitionsentscheidungen sind allein auf Profitmaximierung ausgerichtet. Wir haben im Westen eine Externalisierungsgesellschaft geschaffen, in der wir die dunkle Seite unserer Wirtschaft auslagern in ärmere Länder — Verschmutzung, Menschenrechtsverletzungen, Landnahme.

Aber mit der Klima- und Umweltkrise holt uns diese Wirtschaftsweise ein. Alle sehen nun: Wir fahren gegen die Wand. Um eine Wirtschaft innerhalb der planetaren Grenzen zu entwickeln, werden wir den wahren Preis von Produkten und Dienstleistungen zu zahlen haben, sprich die Kosten von CO2-Emissionen, der Regeneration von Ökosystemen, der Müllverwertung werden eingepreist werden müssen. Das wird Produktions- und Konsummuster drastisch verändern und viel Innovation hervorrufen.

Mobilität in Innenstädten etwa, wie Berlin oder Paris, verändert sich ja schon deutlich, wird durch Abo-Services von E-Bikes und Lastenrädern oder mit Carsharing modularer und gemeinschaftlicher organisiert. Dies entspricht einem Kernsatz der Nachhaltigkeit, “nutzen statt besitzen”. Alle Bereiche der Wirtschaft werden sich neu erfinden müssen: Wie wir Energie herstellen (flexibler und modularer), wie wir verpacken (bio-basierte Materialien), wie wir essen (pflanzenbasierter, alternative Proteine).

Lüthi: Jetzt heisst ja eure Firma „Planet A“ und bezieht sich damit direkt auf die planetaren Grenzen. Welches Investitionsprojekt stimmt dich hoffnungsvoll, dass wir diesen Wandel rechtzeitig hinkriegen werden?

Thiede: Mich stimmt zuversichtlich, dass wir so viele fantastische und erfahrene Gründer und Gründerinnen sehen, die den Klimawandel und die Ökosystemkrise zu ihrer Mission machen. Vor 10-20 Jahren waren das deutlich weniger. Sie werfen ihre Fähigkeiten und ihren Mut in die Waagschale, um wichtige Innovationen schneller auf den Weg zu bringen.

Solch ein Beispiel ist Ineratec: ein junges Unternehmen, Spin-Off des Karlsruher Instituts für Technologie, das in der Lage ist, aus grünem Wasserstoff und erneuerbaren Energien E-Fuels herzustellen, also nachhaltigen Treibstoff. Dies wird vor allem für schwer zu dekarbonisierende Industrien wie den Flug- und Schiffsverkehr wichtig sein, um die Klimaziele zu erreichen.

Ich möchte auch Traceless Materials hervorheben, ein fabelhaftes all-female Gründerteam, das biobasierte, vollständig kompostierbare Materialien aus landwirtschaftlichen Reststoffen herstellt, die alle Qualitäten von Kunststoff aufweisen. Ein grosser Schritt in Richtung Kreislaufwirtschaft und Beendigung der Plastikflut.

"Mich stimmt zuversichtlich, dass wir so viele fantastische und erfahrene Gründer und Gründerinnen sehen, die den Klimawandel und die Ökosystemkrise zu ihrer Mission machen." Bild: Ghazaal Hosseini.

Lüthi: Wie realistisch ist es, dass solche CO2-neutralen Lösungen den Markt zeitnah beherrschen? Was braucht es dafür?

Thiede: Es braucht einen deutlich höheren CO2-Preis. Derzeit liegt er bei 25 Euro pro Tonne Kohlenstoffdioxid. Bis zum Jahr 2025 soll er in Deutschland schrittweise auf bis zu 55 Euro steigen. Das ist immer noch zu wenig. Erst bei einem Preis von mehr als 100 Euro pro Tonne ist eine Lenkungswirkung zu erwarten, davon gehen alle Experten aus. 

Es braucht zudem eine ambitionierte Regulatorik, die umweltfreundliche Lösungen profitabel werden lässt und Innovation anfeuert, sowie eine bessere Offenlegungspflicht für Investoren. Viel zu viele umweltschädliche Anlagemöglichkeiten können sich heute noch unter dem Deckmantel von Nachhaltigkeit/ESG verstecken.

Und schliesslich brauchen wir Forschung und Wagniskapital für Technologien, die für die Erreichung der Klimaziele unverzichtbar sein werden. Neben radikalen Emissionsminderungen vor allem in den Bereichen Energie, Transport, Landwirtschaft, Bauwesen geht es hier um Lösungen, die CO2 aus der Atmosphäre entziehen, sogenannte „Negative Emissions Technologies“. Das können naturbasierte Lösungen sein wie Renaturierungen oder technologiebasierte Lösungen, zum Beispiel die direkte Abscheidung von Kohlendioxid aus der Luft (Direct Air Capture/DAC).

Lüthi: Siehst Du auch Gründe, die gegen diese starke staatliche Regulierung sprechen? 

Thiede: Auch wenn ich überzeugt bin, dass wir diese Herausforderung nur mit Unternehmergeist und -tum sinnvoll adressieren können: Kein Markt ohne Staat. Wir brauchen klare Zielorientierungen und einen Rahmen, in dem sich dann unternehmerisches Handeln entfalten kann.

Zudem werden wir den Staat bei der Grundlagenforschung neuer Technologien benötigen — das Silicon Valley ist ohne staatliche Investitionen in Forschung nicht zu denken. Und wir werden Ausgleichsmechanismen benötigen, Stichwort “just transition”, welche gesellschaftliche Verwerfungen des anstehenden Umbruchs abfedern. 

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