15. Juli 2016

„Auf einen Schlag ist Brexit für mich real geworden“

Ein Votum erschütterte im Juni die EU: Die Mehrheit der Briten stimmte tatsächlich für den Brexit. nefiat Tim Cholibois, der bereits seit sieben Jahren in London lebt, hat den Weg zum Referendum für ad hoc international dokumentiert und seine Gedanken im Anschluss an die Entscheidung festgehalten.

Februar 2016: “I have big news”, warnt mich eine deutsche Freundin vor, als ich sie Anfang des Jahres auf einen Kaffee treffe. Sie ist eine der wenigen Deutschen in London, die ich seit meinem Umzug 2009 kenne, die noch in der englischen Hauptstadt wohnt. “I’m out!” Und damit meinte sie nicht, dass sie im damals noch fernen EU-Referendum für den Austritt stimmen werde. Sie hatte den Entschluss gefasst, Großbritannien zu verlassen. Das politische Klima vor Ort sei ihr zu viel geworden. Brexit hin oder her – allein die Art und Weise, wie Populisten so starken Zuspruch in der Gesellschaft finden, war für sie persönlich ein klares Zeichen. Sie werde ihren Job zum Sommer kündigen. Auf einen Schlag war Brexit für mich real geworden. Ich fing an, darüber nachzudenken, was es für mich bedeuten würde, wenn es denn wirklich zum politischen Super-GAU kommen sollte.

April 2016: Im Zeitgeist, einem deutschen Pub in Südlondon, flirtet der Barkeeper mit einer Bekannten. „Ich liebe die Deutschen“, sagt er, “they’re my favourites”. Als er später unsere Diskussion über Brexit hört, lässt er es sich nicht nehmen, auch seine Meinung abzugeben: “I’m voting out for sure”, verkündet er stolz. Die Zeit der EU sei vorüber, das wisse doch jeder und man müsse das sinkende Schiff so schnell wie möglich verlassen.

„Zusammen sind wir stärker“, dieser Slogan konnte offenbar eine Mehrheit der BritInnen nicht überzeugen. // © AVAAZ

Mai 2016: Ein guter Freund erklärt mir, dass er 100 Prozent für den Verbleib Großbritanniens in der EU ist. Ich atme erleichtert auf. Es ist mir schon zu oft passiert, dass sich britische Freunde im persönlichen Gespräch als vollkommen gleichgültig gegenüber der europäischen Idee entpuppt haben. Er jedoch nicht. Er ist Student, er hat sein Erasmus-Semester noch vor sich, er möchte in Europa arbeiten. Trotzdem hat er nicht vor, wählen zu gehen. Mit britischen Politikern habe er sich nie identifizieren können, er will sich so weit wie möglich vom politischen System distanzieren. Keiner in seiner Familie geht wählen. Denn alle wüssten, dass die EU nicht den Kern des Problems darstellt und lediglich ein Sündenbock sei, um über die verpfuschte Politik der letzten Jahre hinwegzutäuschen. Deshalb wolle man gar nicht erst darüber abstimmen.

Juni 2016, wieder im Zeitgeist: Eine indische Freundin hat sich gerade zum Wählen registriert und verkündet stolz, dass sie für den Verbleib in der EU stimmen werde. Sie gibt jedoch zu bedenken, dass sie damit im Vergleich zu anderen Indern in der klaren Minderheit ist. „Als Inderin in England wurde ich mein gesamtes Leben lang diskriminiert, ich habe nie die Jobs gekriegt, die ich wollte, und immer weniger Gehalt als meine männlichen, weißen Kollegen. Viele in meinem Bekanntenkreis denken, dass sie mit weniger Europäern in London vielleicht endlich die Jobs bekommen, für die sie jahrelang gekämpft haben.“ Die Umfrage auf der Economist-Website zeigt die Brexit-Befürworter zum ersten Mal vorn. 

23. Juni 2016, 7:30 Uhr: Ich stehe früh morgens auf der Waterloo Bridge und verteile im strömenden Regen “I’m in”- Sticker. Der Regionalleiter der In-Kampagne glaubt, dass die Überschwemmungen im Süden die Wahlbeteiligung massiv senken werden. Es seien vor allem Remain-Wähler, die den Wahlurnen dann fernblieben. Die morgendlichen Pendler sind allerdings bestens gelaunt, viele haben bereits ihre Stimme abgegeben. Stolz marschieren sie (und auch ich) mit den Aufklebern an der Brust zur Arbeit. “I’m out” höre ich von nicht einmal 10 Prozent der Passanten. Ich bin optimistisch, zum ersten Mal seit langem.

24. Juni 2016, 0:30 Uhr: Abends dann der Schock. Im blau-gelb dekorierten Wohnzimmer derjenigen Freundin, die schon im Februar ihren persönlichen Brexit verkündet hatte, stehen die bunt gemischten Gäste der Hausparty vor dem Laptop und folgen den Auszählungen. Es ist sogar jemand von BBC da – ursprünglich, um die Partystimmung auf unserer „EU-Party“ festzuhalten. Die Kamera fängt allerdings relativ geschockte Gesichter ein, als sich herauskristallisiert, dass „Remain“ in den ersten Regionen weit hinter den Erwartungen zurückbleibt.

24. Juni 2015, 5:40 Uhr: Der Großteil der Partygäste liegt schlaflos im Bett. Per Whatsapp erreicht mich eine Nachricht: „Remain kann nicht mehr gewinnen. Haben sie grad auf BBC gesagt! Ich weiß nicht, wie ich jetzt schlafen soll.“

24. Juni 2016, 11:30 Uhr: Katerstimmung im Büro. Auch hier wurde die geplante Referendums-Feier abgesagt. Viele tragen schwarz. Den mit den Farben der EU-Flagge verzierten Kuchen rührt niemand an, einzig ein kleines Stückchen hat jemand herausgeschnitten. Später am Nachmittag trifft eine E-Mail vom Chef ein, er scheint ähnlich ratlos wie seine Belegschaft: „Derzeit gibt es keine Klarheit darüber, was dies für bestehende und künftige Mitarbeiter bedeutet.“ Wie es weiter gehe, wisse niemand. Dass diese vollkommene Ungewissheit in den kommenden Tagen und Wochen zum Nationalgefühl im Post-Brexit-Großbritannien avancieren wird, zeichnet sich schon in den frühen Morgenstunden vom 24. Juni ab.

29. Juni 2016: Ich komme zur Arbeit und überhöre das Telefongespräch eines nichteuropäischen Kollegen, der mit einer Osteuropäerin verheiratet ist: „Es ist verrückt. Wir fühlen uns hier nicht mehr zu Hause…diskriminiert…Die Menschen, mit denen wir sprechen, sind unter Schock. Wir haben schließlich die produktivste Zeit unseres Lebens in dieses Land investiert. Nun gut, ich habe keine Lust mehr, deprimiert zu sein. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Der Kollege und seine Frau hatten gerade in ein gemeinsames Haus investiert.

Anfang Juli 2016: Welche Konsequenzen hat Brexit denn nun für mich? Ich bin mittlerweile nach Berlin „geflüchtet“, während sich auf der Insel die Hiobsbotschaften weiter häufen. Ich vermisse das London von vor zwei Wochen, als wir alle gespannt auf den Ausgang der Volksabstimmung warteten. Ich vermisse auch meine Freunde, die wahrscheinlich gerade ohne mich in unserer Stammkneipe in Lambeth sitzen, wo drei Viertel für den Verbleib in der EU gestimmt haben. Aber so richtig Lust auf den Rückflug habe ich nicht.