11. März 2022

Blick von der Grenze

11.03.2022 — Neu-Ulm, Deutschland

Erinnerungen an Tallinn, St. Petersburg und Helsinki verfolgen Katja Baumann in diesen Tagen. Inzwischen hat sie ukrainische Flüchtlinge bei sich einquartiert. Persönliche Gedanken zum Krieg.

Mein Bosch-Jahr liegt schon 25 Jahre zurück — wir waren 1996-97 erst der zweite Jahrgang — und doch ist es mir in diesen Tagen so präsent, wie schon lange nicht mehr.

Damals frisch von der Uni freute ich mich auf weitere Auslandserfahrung. Eigentlich wollte ich gerne noch mal nach Finnland, meine zweite Heimat, doch die Regionen wurden vom Programm vorgegeben und ich bewarb mich mit einer Fragestellung, die damals virulent war: Sicherheitspolitik im Baltikum und der mögliche Nato-Beitritt Estlands.

Meine erste Station führte mich an die deutsche Botschaft in Tallinn, damals untergebracht in einem Bürogebäude des estnischen Außenministeriums. Die Stadt hatte noch einen gewissen Sowjet-Charme: die einförmigen Wohnblöcke, der Geruch nach Desinfektionsmitteln in den Bussen und Straßenbahnen, die einfachen Supermärkte, günstige Preise für Dienstleistungen. Doch die Schönheit Tallinns nahm mich schnell in Beschlag. Ich wohnte bei einer gleichaltrigen jungen Estin. Der Grundstein wurde gelegt für eine seitdem andauernde herzliche Freundschaft. Erst im letzten Sommer waren wir wieder gemeinsam in Estland unterwegs. 1996 lebte der Großvater noch mit im Haushalt, ein hochbetagter Mann, Kriegsteilnehmer und „Waldbruder“, der sich nach dem 2. Weltkrieg versteckt gehalten hatte, um nicht deportiert zu werden.

Ich kannte diese subtile Angst vor dem großen östlichen Nachbarn, Russland, schon von Kindheit an. Meine Familie mütterlicherseits lebte an einem Grenzort im Süden Finnlands. Genau am östlichen Ortsrand ihres Kirchspiels war der sowjetische Hunger nach Land zum Erliegen gekommen. Der östliche Nachbarort wurde noch vollständig evakuiert, meine Großeltern und ihre Familie konnten in ihrem Dorf bleiben. Seit 1944 verläuft hier die Grenze.

Soldatenfriedhof Hietaniemi mit Toten des 2. Weltkrieges in Helsinki. Hier befindet sich die Ruhestätte des Feldmarschalls Mannerheim, eines Generals, der ursprünglich in der zaristischen Armee diente und dessen militärischer Fähigkeit es zu verdanken ist, dass der Winterkrieg nicht in der totalen Niederlage und dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit endete. Bild: Katja Baumann.

In Estland waren die Traumata der Sowjetzeit 1996 sehr deutlich spürbar. Die wiedererkämpfte Unabhängigkeit musste erhalten bleiben. Außerdem waren Exil-Esten ins Land zurückgekommen und wollten die Westbindung verstärken. Ein möglicher Beitritt zur Nato schien vielen damals die Garantie dafür, dass es keine Revanche von Seiten Russlands geben würde.

Schon damals arbeitete die russische Propaganda beständig und schlug immer wieder in dieselbe Kerbe, dass Russen in Estland diskriminiert würden. Dabei bestand die vermeintliche Demütigung eigentlich nur darin, dass sie aufgrund der Unabhängigkeit des Landes zu einer Minderheit geworden waren und Estnisch lernen mussten. Viele russischsprachige Menschen wussten die Westanbindung, den wirtschaftlichen Aufschwung und die Entwicklung Estlands zu einem High-Tech-Land mit hoher Digitalisierung und skandinavisch geprägtem Bildungsoptimismus sehr zu schätzen. Sie strebten danach, sich zu integrieren und ihr Stück vom Kuchen des Erfolgs abzubekommen.

Damals fanden erste gemeinsame Manöver mit Nato-Staaten und auch Schweden statt. Das kleine baltische Land wollte eigene Streitkräfte aufbauen. Als ich Anfang 1997 nach Brüssel ins Nato-Hauptquartier wechselte — genauer ins Büro des Sonderberaters für Mittel- und Osteuropa — begegnete ich im Manfred-Wörner-Wing den Vertretern der nun unabhängigen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Das alte Freund-Feind-Denken schien überwunden. Ich half im Büro mit, Seminare für diese Offiziere zu organisieren zur Rolle der Streitkräfte in der Demokratie. Es ging um den „Bürger in Uniform“ und um die Beziehungen des Militärs zur Zivilgesellschaft. Wir spürten den frischen Wind und gelegentlich auch die Frustration, dass da Militärs mit ganz anderer Prägung saßen. „This generation has to die out,“ so der Kommentar eines Referenten, der sich mit ehemaligen Sowjet-Offizieren in die Haare gekriegt hatte. Doch niemand ließ sich die optimistische Überzeugung nehmen, dass eine Ära des Friedens in Europa begonnen hatte.

Zurück in Estland stand ein traumhafter Sommer bevor. Zwei Monate arbeitete ich noch bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. In bleibender Erinnerung ist mir unser privat organisiertes Boschi-Treffen in Russland. Ein Stipendiat vor Ort, Volker, der leider viel zu früh verstorben ist, hatte es organisiert: Weiße Nächte in St. Petersburg. Und viele waren gekommen, die in der Region waren und es ermöglichen konnten. Für mich und meinen Bosch-Kollegen Matthias in Estland war es nur eine kurze Busfahrt in die Metropole an der Newa-Mündung. Wir waren alles junge Leute, weltoffen und neugierig auf das Leben. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien nie unterzugehen. Es war mein bislang letzter Besuch in Russland. Der Gegensatz könnte aktuell nicht größer sein: Meine Erinnerung an diese helle, strahlende Stadt und die dunkle hässliche Fratze des Aggressors im Krieg gegen die Ukraine.

Die Angst vor Russland habe ich ja wegen der Herkunft meiner Mutter gewissermaßen schon mit der Muttermilch aufgesogen. Als wir im letzten Sommer in Finnland waren, zeigte uns ein Freund den Bunker in seinem Wohnkomplex. Sein Titel: der offizielle „Bunkerwart“. “Wozu braucht man im Jahr 2022 in Helsinki einen Bunker?”, fragte ich ihn. „Wenn der Russe wiederkommt,” so seine Antwort, halb scherzhaft, halb im Ernst. Als ich Freunden hier in Deutschland nach dem Urlaub davon erzählte, schauten sie nur ungläubig. Der Bunkerwart fühlt sich jetzt sicherlich bestätigt. Und auch meine estnische Freundin ist erleichtert, dass ihr Land Nato-Mitglied ist. Putin wird doch nicht wagen…

Doch sie ist angespannt, kann es nicht fassen, dass so schlimme Zeiten gekommen sind. Es geht ihr so wie mir, dass wir innerlich seit Kriegsbeginn nicht mehr zur Ruhe kommen, schlecht schlafen und nach Auswegen suchen und Möglichkeiten zu helfen.

Auch eine alte Dame mit 98 Jahren, die ich letzten Samstag im Altersheim besuchte, jammerte. Sie würde Tag und Nacht beten, dieser Krieg müsse sofort aufhören. So viele Erinnerungen kämen in ihr hoch, wie sie als junge Frau in Ulm ausgebombt wurde. Die jetzigen Kriegsereignisse wühlten sie tief auf und brächten sie um ihren Seelenfrieden.

Die Auswirkungen der Bombeneinschläge in der Ukraine sind so auf emotionaler Ebene bis hier vor Ort spürbar. Am letzten Sonntag kamen Leute in den Gottesdienst, die sichtlich fassungslos waren. Wenn schon sonst nichts, dann wenigstens beten für die Ukraine.

Alle möglichen privaten Initiativen hier rufen dazu auf, Hilfsgüter zu sammeln, die an die Grenze gefahren werden sollen. Noch ist vieles spontan und unkoordiniert. Einige Busse mit Hilfsgütern sind jedoch schon mit Flüchtlingen zurückgekommen. Wir haben uns auch gemeldet, dass wir Flüchtlinge bei uns privat unterbringen können.

Seit gestern sind eine Mutter und ihre 12jährige Tochter aus Charkiw bei uns. Sie waren acht Tage unterwegs über Modawien, Rumänien und Polen. In Ulm waren die Schlafplätze belegt, so rief mich eine ukrainische Bekannte an, die von unserer Bereitschaft wusste. Die beiden sind jetzt bei uns und schlafen sich erst mal aus. Der Vater musste in Charkiw bleiben.

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