Im Herzen des Kreml
Es herrscht Winter. Nicht nur in Moskau, sondern auch in den deutsch-russischen Beziehungen. Nach dem umstrittenen Urteil im Prozess um (…)
8. Dezember 2011
Ein Beitrag von Matthias Kaufmann
Dieser eigenartige Ort lässt mich gerade kaum los. Meine Tage in Brüssel sind überreich an Erfahrungen und Entdeckungen im Mikrokosmos der europäischen China-Diplomatie und kaum ein Abend vergeht, an dem nicht ein mehr oder minder steifer Empfang, eine freundliche Einladung, ein hochkarätiges Konzert, eine interessante Museumsnocturne, eine charmante Party rufen – am besten gleich alle auf einmal! Ruhige Stunden sind tatsächlich rar in Europas unwahrscheinlicher Hauptstadt, die, obwohl ihr Londons Selbstverständlichkeit, die Pariser Grandeur, Roms atemberaubende Kunstschätze, oder auch Berlins vom 20. Jahrhundert zerfurchtes Gesicht fehlen, doch diesen Kontinent und sein Heute repräsentiert wie keine Zweite: Verhältnismäßig klein, aber ausreichend groß um eine zentrale Rolle zu spielen; wunderschön und charmant an manchen Ecken, an vielen anderen jedoch schroff und abweisend; spürbar wohlhabend, aber wohl kaum gerecht; Ziel von unzähligen Einwanderern; ein Hort großer Kultur; und nicht zuletzt ein Ort, an dem eine geteilte Nation nach ihrer Mitte sucht.
Die Beton- und Stahl-Kolosse von Rat, Kommission und Parlament, die nach wie vor recht unsensibel ihren Platz im Gefüge der filigranen Brüsseler Wohnbebauung einfordern, sind umgeben von anscheinend ewigen Baustellen. Da die lokalen Baufirmen sich hier in ihrer Zeitplanung generall am Fortschrittstempo der europäischen Integration zu orientieren scheinen, herrscht auch im Viertel rund um den Schuman-Kreisel im Herzen des Europaviertels, nach einer bis 2008 andauernden Phase des euphorischen Aufbaus, in den letzten Jahren gefühlter Stillstand. Überall umgeleiteter Verkehr und, von Zeit zu Zeit, das metallische Hämmern der Pressluftmaschinen.
Dass auch an Europa dieser Tage besonders nachdrücklich gebaut wird, macht sich, auf den ersten Blick, im Brüsseler Alltag kaum bemerkbar. Morgens hupen sich, wie immer, die blechernen Abgaslawinen unerbittlich aus den Tunneln in das Europäische Viertel, während man sich in den Touristenfallen rund um Grand Place und Manneken Piss für den alltäglichen Ansturm auf Schokolade- und Moules-frites-Vorräte wappnet. Und auch diesen Donnerstag Abend treffen sich bestimmt wieder hunderte Stageaires an der „Place Lux“ vor dem Parlament auf das eine oder andere Gläschen Bier. Immerhin, die mit Stacheldraht bewehrten Straßensperren, die den Schuman Kreisel und weitere Strassen rund um das Justus-Lipsius-Gebäude für die Zusammenkünfte des Europäischen Rates in eine Sperrzone verwandeln, werden inzwischen einfach dauerhaft auf den Gehwegen stehen gelassen – der nächste Krisengipfel kommt bestimmt, und wahrscheinlich sogar früher als man denkt. Auch in den Institutionen – ungeachtet der weltweit zunehmend hysterischen Zeitungskommentare – business as usual; oberflächlich betrachtet, zumindest. Sicherlich aber drehen sich viele der unzähligen Kantinengespräche von Rue de la Loi bis Cinquantenaire dieser Tage nur darum, wie es wohl weitergehen wird mit diesem Großprojekt, an dem hier alle täglich mitarbeiten.
Man kann nur hoffen, dass der erwartete, große Durchbruch endlich gelingen wird an diesem Freitag, oder dass zumindest der – ätzender Weise – teils genüsslich heraufbeschworene Zusammenbruch vorerst verhindert werden kann. Was für ein unermesslicher Verlust wäre das Ende dieses einzigartigen Vorhabens, das über Jahrzehnte den Europäern Frieden und Wohlstand garantiert hat! Ein Vorhaben, das in seiner Tollkühnheit nicht nur mich – hier in seinem summenden Zentrum – jeden Tag aufs neue fasziniert: Meine Kollegen in der neun Mann und Frau starken China-Unit des Europäischen Auswärtigen Dienstes kommen aus acht verschiedenen Ländern, aus Europas Norden, Süden, Osten und Westen. Sie verständigen sich untereinander auf mindestens vier Verkehrssprachen: Englisch, natürlich; Französisch, hier in Brüssel gerne und häufig; ein bisschen Deutsch ab und zu; und auch immer wieder Italienisch. Wenn chinesischer Besuch kommt, so werden zumindest ein paar Höflichkeiten auch auf Mandarin ausgetauscht. Wo sonst auf der Welt, außer vielleicht bei den Vereinten Nationen, enden solch babylonische Zustände nicht im Chaos?
Hier schaffen sie ein kosmopolitisch-kollegiales Umfeld, das jedem Raum gibt, sich in seiner persönlichen kulturellen Identität wahrgenommen zu fühlen und zu integrieren. Täglich wächst meine Hochachtung für die beeindruckenden Frauen und Männer, die hier arbeiten. Gleichermaßen wächst meine Begeisterung für diese wunderbare Idee, Europa, die sich nur vordergründig versteckt hinter den Straßensperren, Baustellen und abweisenden Glasfassaden, hinter den bürokratischen Auswüchsen und organisatorischen Unzulänglichkeiten, hinter den allgegenwärtigen Sachzwängen und persönlichen Eitelkeiten.
Es bleibt zu hoffen, dass, allen Rückschlägen zum Trotz, diese für das zukünftige Wohlergehen unseres Kontinents so immens wichtige Baustelle in nicht allzu ferner Zukunft abgeschlossen werden kann. Bis dahin will ich versuchen mitzubauen.