9. Juli 2014
Der Asylkompromiss in Deutschland und Europa– Abschreckung statt Willkommenskultur
Ein Beitrag von Leana Podeszfa
Am 26. Mai 1993 blockierten rund 10 000 Demonstranten aus ganz Deutschland die Zugänge zum Bonner Regierungsviertel. Sie wollten die Parlamentarier davon abhalten, Artikel 16 des Grundgesetzes zu debattieren, und wohlmöglich zu ändern.
Dieser Artikel („Politisch Verfolgte geniessen Asylrecht“) gab politisch Verfolgten das Recht, sich um Asyl zu bewerben, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte fordert. Artikel 16 verpflichtet den Staat, allen politisch Verfolgten Asyl zu gewähren. Nur wenige Male zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik waren die in Artikel 1 bis 19 aufgelisteten Menschenrechte substantiell geändert worden. An jenem Dienstag jedoch verabschiedete das Parlament den 1992 vereinbarten Asylkompromiss – mit großen Auswirkungen auf die deutsche und da mit auch auf die europäische Asylpolitik.
Die Asyldebatte spaltet Deutschland bis heute. Von Beginn an waren die Fronten klar: SPD und FDP, sowie später die Grünen, die katholische und evangelische Kirche und große Teile der Zivilgesellschaft befürworteten, mit Blick auf die Nazivergangenheit, die deutsche Verantwortung gegenüber politisch Verfolgten. Artikel 16 sollte unantastbar bleiben. Auf der an deren Seite standen CDU und CSU, die schon Anfang der 70er Jahre anfingen, Asylbewerber als „Asylbetrüger“ und „Scheinasylanten“ zu bezeichnen.
Für eine Grundgesetzänderung hatten CDU/CSU die nötige Zweidrittelmehrheit jedoch nicht. In den 1970er und 1980er Jahren wurden deshalb mehrere Gesetze verabschiedet, welche das Recht auf Asyl aushöhlten und der Abschreckung dienten. So wurde Ende der 1970er Jahre der Visumszwang eingeführt, der Flüchtlinge dazu bringen sollte, sich schon vor ihrer Abreise ein Visum bei einer deutschen Außenstelle zu besorgen – meist vor den Augen ihrer Verfolger. Auch für Asylsuchende, die es bereits nach Deutschland geschafft hatten, wurden die Bedingungen schlechter. Der Familiennachzug wurde beschränkt, Gemeinschaftsunterkünfte mit Lagercharakter gebaut und Sachleistungen gestrichen.
Mit dem Fall der Mauer wuchs der Migrationsdruck auf Westdeutschland. Zwischen 1989 und 1993 kamen etwa drei Millionen Aussiedler, Migranten und Asylbewerber in die alten Bundesländer. Zudem zogen etwa eine Million Ostdeutsche nach Westdeutschland. Die Neuankömmlinge mussten in Sporthallen, Kriegsbunkern und Gemeindezentren untergebracht werden. Im Jahr 1992 stieg die Zahl der Asylanträge auf über 438 000, mehr Anträge als in den restlichen EU Mitgliedstaaten zusammen. Kommunen waren überfordert; gleichzeitig kam es zu fremdenfeindlichen Übergriffen. In Rostock Lichtenhagen etwa belagerten Rechtsextreme mehrere Tage eine zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und setzten schließlich ein Wohnheim in Brand – unter dem Beifall von über tausend Schaulustigen.
Politischer Druck führte bei SPD und FDP schließlich zu Verhandlungen mit der CDU/CSU. Ergebnis war der Asylkompromiss vom 6. Dezember 1992: Die Formulierung „politisch Verfolgte geniessen Asylrecht“ blieb bestehen, wurde aber durch Zusatzklauseln eingeschränkt. So legte etwa die Drittstaatenregelung fest, dass es kein Asylrecht für Menschen gibt, die aus einem Land einreisen, in dem die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist. Per Gesetz wurde zudem bestimmt, in welchen Ländern die Rechtslage erwarten lässt, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet. Asylanträge aus solchen Ländern wurden oft als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt.
Die Möglichkeiten der Einreise für Asylbewerber wurden dementsprechend restriktiver. Am Ende blieb den Fliehenden nur noch der Luftweg, doch auch der endete meist bereits am Flughafen. Laut Flughafenregelung werden Asylverfahren für Bewerber, die aus „sicheren Drittländern“ einreisen, schon im Transitbereich der deutscher Flughäfen verhandelt. Asylbewerber können somit abgelehnt werden, bevor sie überhaupt deutschen Boden betreten haben.
Die Änderung von Artikel 16 hatte nicht nur Auswirkungen auf die deutsche Asylpolitik, sondern beeinflusste auch die europäische Politik nachhaltig. Zehn Jahre nach dem Asylkompromiss wurde 2003 die sogenannte DublinIIVerordnung auf EU Ebene verabschiedet. Diese regelt, dass der Mitgliedsstaat, in dem der Asylsuchende zuerst einreist, für das Verfahren zuständig ist. So soll sekundäre Migration innerhalb der EU verhindert werden. Das Dublin System übernimmt hierdurch die im Asylkompromiss festgelegte Drittstaatenregelung.
Tausende von Asylbewerbern in Deutschland bekommen jedes Jahr den sogenannten Dublin Bescheid. Das heißt, ihr Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als „unzulässig“ abgelehnt (also gar nicht erst geprüft), weil sie aus einem EU Land eingereist sind, in das sie im zweiten Schritt wieder abgeschoben werden. Ländern an den Außengrenzen der EU, wie beispielsweise Italien, Griechenland, Malta, und Spanien werden damit die größten Bürden aufgeladen und sie sind dementsprechend überlastet mit der Vielzahl von zu bearbeitenden Anträgen.
Problematisch ist diese innereuropäische Abschiebung jedoch insbesondere aus Menschenrechtsperspektive: ProAsyl, eine Organisation, die sich für Flüchtlingsrechte einsetzt, berichtet, dass Abgeschobenen in Italien und Griechenland unmenschliche und erniedrigende Behandlung, etwa Obdachlosigkeit und Verelendung droht. Abschiebungen nach Griechenland erfolgen daher seit 2011 nicht mehr und hunderte von Abschiebungen nach Italien wurden von deutschen Verwaltungsgerichten ausgesetzt.
Deutsche Politiker bemängeln gerne die Bedingungen für Asyl bewerber in diesen Ländern, verhindern jedoch gleichzeitig konstruktive Lösungsvorschläge. „Dublin […] bleibt unverändert, selbstverständlich“, sagte der ehemalige Bundesinnenminister HansPeter Friedrich (CSU) letztes Jahr bei einem Treffen der EU Innenminister. Dabei gibt es verschiedene Maßnahmen, die Deutschland einführen könnte, um gleichzeitig dem deutschen Wunsch nach kontrollierter Migration gerecht zu werden und Asyl menschlicher zu gestalten. Zum Beispiel könnte die EU die Aufnahme von Asylbewerbern je nach wirtschaftlicher Stärke der Mitgliedsstaaten regeln und auf diese Weise Länder an den europäischen Außengrenzen entlasten. Deutschland könnte auch sein Resettlementprogramm zur Umsiedlung von Flüchtlingen nach Deutschland als Drittland ausbauen. Zwar hat Deutschland versprochen, 10000 syrische Flüchtlinge als humanitäre Geste aufzunehmen, doch das reguläre Resettlement programm in Deutschland bleibt klein: Es beschränkt sich auf rund 300 Personen pro Jahr. Im Vergleich zu den jährlichen Asylgesuchen (64 539 Anträge im Jahr 2012) oder der Resettlementaufnahmequote der USA (bis zu 80 000 pro Jahr) ist dies eine verschwindend geringe Zahl. Die gegenwärtige Debatten zum Thema Migration und Einwanderung lassen nicht vermuten, dass sich die Anzahl in naher Zukunft signifikant erhöhen wird. Ein trauriges Resümee für ein Land wie Deutschland, das die Einhaltung von Menschenrechten fordert und langfristig dringend auf Einwanderung angewiesen sein wird.