21. April 2020

Die andere Seuche

21.04.2020 — Potsdam, Deutschland

Seit über fünfzig Jahren kämpft die internationale Gemeinschaft gegen die Flussblindheit. Der Kampf zeigt, was globale Krankheiten von uns fordern: kluge internationale Zusammenarbeit und Visionäre mit Tatkraft.
Copyright: Courtesy of The World Bank Group Archives

Im Sommer 2001 führte ich als Stipendiatin des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben mein erstes Interview zur Flussblindheit, einer vor allem in Afrika vorkommenden tropischen Krankheit. Zwanzig Jahre später sitze ich in Potsdam, neben mir „Nemesis“ von Philipp Roth. Nemesis ist die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, in dem Roman geht es um eine fiktionale Polio-Epidemie in Newark.

Letzten Herbst flog ich wieder nach Washington. Ich hatte eine Romanidee und wollte wissen, was aus der internationalen Partnerschaft zur Bekämpfung der Flussblindheit geworden war. Je mehr ich darüber las, desto klarer wurde mir, wie langwierig der Kampf gegen eine solche Seuche ist und wie unabdingbar hierfür die internationale Zusammenarbeit.

„Keine Regierung hätte die Flussblindheit alleine bekämpfen können“, heißt es in einem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 1991.

Das Programm zur Eindämmung der Flussblindheit gehört inzwischen zu den erfolgreichsten Gesundheitsprojekten in Afrika.

Überträger der Flussblindheit ist eine Kriebelmücke, eine black fly. Sie brütet auf schnell fließendem Gewässer und sucht sich einen Menschen als Wirt. Sie sticht. Dabei legt sie Larven ab. Diese bohren sich unter die Haut und wachsen zu Fadenwürmern heran, die sich wiederum vermehren.

Ein weiblicher Wurm kann täglich bis zu 1000 Mikrowürmer produzieren. Unter der Haut des Menschen kommt es zu Ausstülpungen, Knoten, und, was schlimmer ist, zu einem unerträglichen und dauerndem Juckreiz, der jede kontinuierliche Arbeit unmöglich macht.

Sticht nun eine weitere Kriebelmücke den Wirt, wird auch diese infiziert und verbreitet die Krankheit weiter. Über die Jahre wandern die Würmer im menschlichen Körper, bis zu den Augen. Sterben die Würmer, kommt es zu Entzündungen. Die erkrankten Menschen erblinden allmählich. Bis zu 200 Millionen Würmer leben in einem Körper.

Erstmals beschrieben Augenärzte die Flussblindheit 1893.

Der belgische Arzt Jean Hissette stellte 1926 den Zusammenhang zwischen der Krankheit und dem parasitären Wurm her. Doch erst nach einer Reise von Jean und John Wilson nach Westafrika im Jahr 1952 wurde die Krankheit im Westen bekannter.

Das Ehepaar lernte die stillen, leblosen Dörfer kennen, in denen fast alle Einwohner ab dreißig Jahren aufwärts blind waren. Kinder führten blinde Menschen an Stöcken. Oder die Blinden liefen an im Dorf aufgespannten Bändern entlang. Das Ehepaar beschloss, etwas zu tun.

Um auf die Krankheit aufmerksam zu machen, erfand Jean Wilson den Namen river blindness, den man sich leichter merkt als die wissenschaftliche Bezeichnung, Onchozerkase. Fortan verschrieb sich das Paar der Hilfe für diejenigen, die unter dieser Krankheit litten. Sie gründeten die Royal Commonwealth Society for the Blind, heute Sightsavers International.

Weitere zwanzig Jahre dauerte es, bis die Flussblindheit zu einer Angelegenheit der internationalen Zusammenarbeit wurde, und zwar als 1972 der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara mit einer eigens für ihn gecharterten Maschine nach Ouagadougou flog. Die Flussblindheit war damals die zweitgrößte Ursache für Blindheit weltweit.

Treibende Kräfte der Reise waren McNamaras Mitarbeiter: Roger Chaufournier, Leiter für Westafrika in der Weltbank, und Marc Bazin, Abteilungsleiter für Burkina Faso (damals noch Obervolta). „Worauf wartet ihr, organisiert dieses Programm,“ sagte McNamara zu seinen Mitarbeitern, als er die unsägliche Armut und Trostlosigkeit sah, und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Flussblindheit erfasste.

Konzepte hatten bereits seit zehn Jahren in Chaufourniers Schublade gelegen. Wichtige Fragen aber waren unbeantwortet geblieben: Wie sollte man ein Projekt mit derart vielen Ländern organisieren? Wie so viel Geld aufbringen (man ging von 300 Millionen US Dollar aus)? Und sollte die Bank nicht eher Straßen bauen und in die Telekommunikation investieren, als in Gesundheit?

Mit dem Programm stellte die Weltbank zum allerersten Mal die Verbindung zwischen Gesundheit und wirtschaftlicher Entwicklung her.

Es war unter anderem Chaufournier und Bazin zu verdanken, dass diese Idee sich in der Weltbank durchsetzte. Inzwischen umfasst das Gesundheitsportfolio der Weltbank 1,7 Milliarden US Dollar. In den siebziger Jahren waren es nur 25 Millionen gewesen.

1974 trafen sich internationale Organisationen, Weltbank, WHO, UNDP und FAO mit Geberländern in London und beschlossen, die Regionen, in denen die Kriebelmücke brütete, mit Insektiziden zu besprühen, um den Zyklus der Übertragung zu unterbrechen. Zu Fuß und aus der Luft, mit Helikoptern und Flugzeugen — ein geradezu irres Unterfangen, aber es funktionierte (zur Bekämpfung der Flussblindheit sollen dieselben Helikopter eingesetzt worden sein, die McNamara als Verteidigungsminister nach Vietnam geschickt hatte).

Das in London beschlossene Onchocerciasis Control Program, OCP, umfasste elf westafrikanische Länder, darunter Burkina Faso, Côte d’Ivoire, Ghana, Niger. Je nach Wind reist die Kriebelmücke zwischen 400 und 600 Kilometer weit. Die Flussblindheit liess sich daher nicht kontrollieren, indem man sich nur auf ein Land beschränkte. Manchmal tauchte das Biest in einem Gebiet wieder auf, das man gerade unter Kontrolle gebracht hatte.

Die Ziele des OCP waren: Insekt kontrollieren, Übertragungen verhindern, Seuche ausrotten. Man hatte errechnet, dass acht Millionen Menschen in 35 Staaten den Parasiten in sich trugen, eine Million bereits blind war und 85 Millionen Menschen gefährdet. Millionen.

In den nächsten 28 Jahren brachte man die Flussblindheit in zehn von elf Ländern unter Kontrolle.

Die internationale Gemeinschaft investierte laut WHO 556 Millionen US Dollar. Dadurch gelang es, das fruchtbare Agrarland entlang der Flussläufe — 25 Millionen Hektar — wieder zu nutzen.

An den Flüssen hatte sich das volle Ausmaß dieser Krankheit offenbart, dort verließen junge Menschen die Dörfer, weil sie nicht blind werden wollten (und jeder wurde es irgendwann), verließen das wasserreiche Land, hilflose Eltern und Großeltern. Gemeinschaften zerfielen. Manche hielten den Juckreiz nicht mehr aus und begingen Selbstmord. „Der Fluss“, sagten die Dorfbewohner, „isst die Augen“.

1987 kam es zu einer Entdeckung: Das einfache Wurmmittel Ivermectin wirkte auch beim Menschen.

Es tötete die Würmer, die auch für die Flussblindheit verantwortlich waren. Dass überhaupt an einem Medikament geforscht wurde, ist Roy Vagelos zu verdanken, dem damaligem CEO des Pharmaunternehmens Merck, ausgebildeter Arzt und Forscher. Nicht nur ermutigte er seine Forscher, ihrer Intuition zu folgen und ihre Studien als Mittel zu sehen, um menschliches Leiden zu lindern; er stellte ihnen auch ausreichend Freiraum und Mittel zur Verfügung (und soll sie nachts angerufen haben, wenn er eine gute Idee hatte).

Forscher bei Merck sammelten Bakterien aus aller Welt, bis sie 1975 in der Nähe eines japanischen Golfplatzes eines fanden, das einer Maus half, gesund zu werden. Nun verfügte Merck über ein Wurmmittel für Haustiere, das für die Firma zum Bestseller wurde. Später wurde versucht, was oftmals nicht gelingt: Man übertrug das Medikament vom Tier auf den Menschen — und siehe da: Die jährliche Gabe einer Tablette über 15 Jahre genügte, um den Parasiten zu beseitigen. Ein einfaches und billiges Mittel war gefunden.

Damit begann eine neue Etappe der Zusammenarbeit. Nach etlichen Verhandlungen, Frustrationen, Skepsis — man hatte Angst, das Medikament würde zu toxischen Reaktionen führen — wurde 1995 ein neues Programm unter Leitung der Weltbank aufgesetzt, das African Control Program on Onchocerciasis, APOC.

Es wurde auf 19 Staaten ausgeweitet, meist in West- und Ostafrika, aber auch in den Ländern Lateinamerikas, wo die Krankheit durch den Sklavenhandel eingeschleppt worden war. Kolumbien, Ecuador, Mexiko und Guatemala sind inzwischen frei von Flussblindheit. Für die Entdeckung des Medikaments Ivermectin, erhielten William Campbell und Satoshi Omura 2015 den Nobelpreis.

Adrian Hopkins, der jahrelang als Augenarzt für die Christoffel Blindenmission unter anderem in der Zentralafrikanischen Republik unterwegs gewesen war, baute das sogenannte Mectizan-Programm auf, mit dem man sich zum ersten Mal an einer „mass drug administration“ versuchte.

Ganze Dorfgemeinschaften wurden mit Ivermectin behandelt, um den Zyklus der Übertragung zu unterbrechen.

Eine breite Koalition aus Weltbank, WHO, mehreren Nichtregierungsorganisationen (etwa dem Carter Centre oder der Christoffel-Blindenmission), betroffenen Regierungen, Geberländern — insbesondere den USA, den Niederlanden, Großbritannien; auch Deutschland beteiligte sich von Anfang an — und Entwicklungsbanken richtete einen Fonds und eine Arbeitsstruktur ein. Wie sollten die Medikamente verteilt werden? Wie entlegene Regionen erreichen? Und wer sollte das tun?

Gemeinsam baute die Gruppe eine Logistik- und Verteilungsstruktur auf, die sich „community-directed“ nennt. Die Dorfgemeinschaften wurden in der Vergabe des Medikaments einbezogen, um eine nachhaltige und effiziente Struktur zu etablieren. Mit Epidemiologen, Parasitologen, Ökonomen, Augenärzte, Biologen, Sozialwissenschaftler wirkten an dem Programm Experten aus unterschiedlichsten Disziplinen mit.

In Ouagadougou, Burkina Faso, gründete die WHO ein Regionalbüro, das APOC-Sekretariat, das die Initiative koordinierte und umsetzte. Der Ansatz ist inzwischen Vorbild für andere medizinische Interventionen.

Nach der Spende von Merck zogen andere Pharmazieunternehmen nach. Etwa die Firma GlaxoSmithKline, die ein Medikament gegen die verwandte Krankheit Elephantiasis entwickelt hatte und nun in das Mectizan-Programm mit einstieg. Hier arbeiten nun zwei private Unternehmen zusammen, die ansonsten auf dem Markt konkurrieren.

2015 lief APOC aus. Nach langen Verhandlungen wurde es in das Expanded Special Project for the Elimination of Neglected Tropical Diseases in Africa, kurz ESPEN, überführt.

Bisher isoliert behandelte tropische Krankheiten wurden nun unter dem Dach der vernachlässigten tropischen Krankheiten gebündelt.

Diese heißen so, weil sie bislang vom Westen wenig Aufmerksamkeit erhielten, ganz im Gegensatz zu anderen Krankheiten wie Malaria, Aids oder Tuberkulose, an denen auch wir erkranken. Vernachlässigt heißt: wenig Forschung, wenig Medikamente, wenig Behandlung, wenig Zukunft.

Kenneth Warren, Experte für tropische Krankheiten an der Rockefeller Foundation, auch er ein Visionär, stellte 1980 fest, dass weltweit drei Milliarden Menschen an Infektionskrankheiten litten. Er nannte sie die Great Neglected Diseases.

Oft wird die Ineffizienz internationaler Organisationen kritisiert. Bürokratie ist anstrengend. Stimmt. Sie nimmt Mitarbeitern Energie, manchmal sogar die Lust an der Arbeit. Dazu Interessenskonflikte, zähe Verhandlungen mit Staaten, die Ja sagen, aber dann nichts tun.

All dies mag man zu Recht kritisieren, einen Bill Gates für seine Effizienz, seine Genialität, sein Geld loben. Private Unternehmen und Stiftungen können einen Beitrag zur Linderung des Elends leisten. Es bleibt eine persönliche Sicht auf die Welt.

Internationale Organisationen fungieren als Koordinatoren, Drehscheibe, sie sorgen für Legitimität.

Und manchmal gelingt es nicht und holpert es. Aber wer hat behauptet, dass Zusammenarbeit einfach und effizient ist?

Internationale Organisationen sind die Orte, an denen Menschen sich begegnen, Wissen und Erfahrungen austauschen, an denen Staaten und NGOs Regeln und Lösungen aushandeln, Tausende von Mitarbeitern komplexe Prozesse lancieren, Sprachbarrieren überwinden, mit kulturellen Besonderheiten umgehen, gemeinsam lachen. Innerhalb dieser Strukturen haben Menschen imaginäre Kraft entwickelt — a world free of poverty — die Idee einer Welt, in der Menschen füreinander einstehen.

Wird die Kriebelmücke nicht kontrolliert, kehrt sie zurück. Mit der Erwärmung unseres Planeten werden sich Insekten verbreiten, auch hierzulande, die Überträger tropischer Krankheiten sind. Die asiatische Tigermücke oder die japanische Buschmücke, Überträger etwa des Denguefiebers, ist in Deutschland schon aufgetaucht. 

Die Corona-Krise verdeutlicht, wie notwendig es ist, die internationale Zusammenarbeit — das Miteinander der Welt — zu verstärken und gut auszurüsten, finanziell und personell. Wir werden sie brauchen.

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