8. November 2021

Die demokratische Internationale

08.11.2021 — Kiew, Ukraine

Gemeinsam für die Freiheit: Erfahrungsbericht eines zivilgesellschaftlichen Engagements in der Ostukraine und in Belarus.

Auf einmal war Oleh Senzow frei. Die Moderatorin des Festivals der Meinungen, das 2019 zum dritten Mal in der Ostukraine stattfand, musste innehalten, als sie die Information erreichte. Sie kannte den aus der Krim stammenden Filmemacher und Aktivisten persönlich und die ungläubige Überraschung war ihr anzusehen.

Auf einen Augenblick der Fassungslosigkeit folgten Jubelrufe und Freudentränen von der Bühne und aus dem Publikum, von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich teils jahrelang für die Freilassung Senzows engagiert hatten. Dieser Moment schien mir der lebendige Beweis dafür, dass internationale zivilgesellschaftliche Allianzen und anhaltender Druck auf autoritäre Staaten Früchte tragen können.

Macht der Zivilgesellschaft

Senzow war kurz nach der russischen Besetzung der Krim im Jahr 2014 festgenommen und in die russische Hauptstadt Moskau überführt worden. Dort hatte ihn ein Gericht zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Ukrainische und internationale Menschenrechtsorganisationen betonten bereits unmittelbar nach seiner Festnahme, dass der Regisseur für seine politische Position und zivilgesellschaftliche Arbeit inhaftiert worden war. Senzow hatte sich, gemeinsam mit anderen Aktivist*innen, offen gegen die Annexion der Krim gestellt und Essen an ukrainische Soldaten verteilt.

Es folgte eine internationale Kampagne zur Freilassung Senzows. Die Organisator*innen des Festivals der Meinungen waren mit ihrer Kolleg*innen von Vostok SOS ganz vorne mit dabei. Die Menschenrechtsverteidiger*innen schlossen sich mit ukrainischen und internationalen NGOs zusammen, um Senzow aus der russischen Haft zu befreien.

Dissidentische Künstler*innen unterstützten die Kampagne, wie zum Beispiel das Belarus Free Theatre. Anhand von Senzows Beispiel inszenierte die Theatergruppe bereits 2016 wie künstlerischer Widerstand gegen Autoritarismus aussieht – und verbanden es mit ihren eigenen Erfahrungen von politischer Unterdrückung in der belarussischen Heimat, wo die Truppe seit Jahren Auftrittsverbot hat.

Die Demonstrationen und beharrliche Advocacy-Arbeit wurden von internationalen Organisationen und westlichen Staaten aufgegriffen und unterstützt: UN-Experten forderten die Freilassung Senzows und kritisierten die Umstände seiner Verhaftung. Die US-Botschaft in der Ukraine, das Büro des Pariser Bürgermeisters oder Litauens Außenministerium und Parlament setzten sich beharrlich für den Filmemacher ein. Das Europäische Parlament verlieh ihm im Jahr 2018 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit, den Senzow erst nach seiner Freilassung, im November 2019, entgegennehmen konnte.

Die Freilassung erfolgte letztlich Dank des Verhandlungsgeschicks des damals neu gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Sein Team handelte 2019 mit der russischen Seite einen Gefangenenaustausch aus. Insgesamt wurden 70 Menschen freigelassen, 35 auf jeder Seite. Einer davon war Senzow. Federica Mogherini, die damalige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik würdigte explizit die Rolle der Zivilgesellschaft, die mit ihrem hartnäckigen Einsatz zum Austausch beigetragen habe.

Liberal-demokratische Watchdogs

Für liberal-demokratische zivilgesellschaftliche Organisationen ist das Ziel ihrer Auseinandersetzung mit autoritären Staaten eindeutig: Umbruch und Demokratisierung. Es geht darum, Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen, diese auf die globale Agenda zu bringen und das Interesse von Staaten und ihren Öffentlichkeiten aufrecht zu erhalten. Die zivilgesellschaftlichen Akteure versuchen, demokratische Regierungen und international tätige Organisationen und Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, um Unrechtsstaaten diplomatisch und wirtschaftlich zu isolieren.

Akteure mit einer solchen Watchdog-Funktion können Advocacy-Gruppen sein oder Kultur- und Bildungsinstitutionen, etwa Verbände, Vereine, religiöse Gruppen, Schulen oder Universitäten. In vielen Gesellschaften, sei es in Osteuropa, Eurasien oder Ländern des globalen Südens, spielen zudem als inhärenter Teil der Zivilgesellschaft auch informelle Netzwerke eine zentrale Rolle, so wie „traditionelle Autoritäten“ innerhalb einer Gemeinschaft (O’Driscoll 2018, Ingram 2020).

Oft ist der Austausch zwischen demokratischen und liberalen Zivilgesellschaften weltweit für den Erfolg der jeweiligen Anliegen essenziell – wie das Beispiel von Oleh Senzow zeigt. Zivilgesellschaftliche Aktivist*innen aus repressiven Staaten suchen über Landesgrenzen hinweg nach Lösungen für ein konkretes Problem oder erarbeiten Wege für eine demokratische Transformation.

Die Themen, die zivilgesellschaftliche Initiativen weltweit mobilisieren, sind dabei vielfältig:

  • Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit, staatliche und wirtschaftliche Transparenz und Umweltschutz (Cavatorta 2013). NGOs erinnern die Staatsmacht daran, dass diese dem Schutz ihrer Bürger*innen und der Menschenrechte und internationalen Verträgen verpflichtet ist. Sie tragen ihre Forderungen auf die Straße und in die Parlamente.
  • In einigen Staaten werden gezielt themenübergreifende Allianzen gebildet, um den individuellen Forderungen einzelner Bewegungen mehr Gewicht zu verleihen: So suchten und suchen Umweltbewegungen in Staaten Ost- und Mitteleuropas gezielt die Nähe zu Demokratie- oder Antikorruptions-Gruppen, um mehr lokale und internationale Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu gewinnen – sei es in Estland und der Ukraine zum Ende der Sowjetherrschaft oder in der Republik Moldau im Jahr 2019.
  • In Staaten und Regionen, die unter Krisen, Krieg oder anderen verheerenden Formen der Instabilität leiden, springen zivilgesellschaftliche Akteure auch dort ein, wo der Staat und die freie Wirtschaft ihre Rollen als fundamentale Dienstleister nicht erfüllen. So sammelten beispielsweise in der Ukraine verschiedene NGOs nach Beginn der Corona-Pandemie Gelder für medizinische Geräte, um besonders gefährdete Gruppen humanitär zu unterstützen.

Wettbewerb um die öffentliche Meinung

Doch so heterogen wie die Staaten und Regionen der Welt sind, so divers sind auch ihre Zivilgesellschaften. Grundsätzlich müssen diese weder per se pro-demokratisch noch liberal sein.

Auch einige nationalistische oder totalitär-religiöse Bewegungen beanspruchen für sich – zum Teil mit demokratischem Recht – ein wichtiger Teil ihrer Communities zu sein. Auch sie wollen im pluralistischen Wettbewerb um politischen und sozialen Einfluss eine gewichtige Rolle spielen und ihre Anliegen durchsetzen.

Das ist aus demokratischer Perspektive legitim – sofern der Wettbewerb im Rahmen rechtsstaatlicher Normen und Institutionen geschieht, Minderheitenrechte geschützt und alle Akteure die freie Partizipation anderer Gruppen respektieren. Um in diesem Wettbewerb zu bestehen, stehen liberal-demokratische Initiativen unter Druck, auf innovative Art Netzwerke, Glaubwürdigkeit und Verwurzelung in ihren Communities zu stärken.

Gefahr der Instrumentalisierung

Neben themenbezogener Expertise und der Verpflichtung zu wertebasierter Arbeit bleibt genau diese Form der Verwurzelung und gesellschaftlichen Legitimität das größte Kapital von NGOs. Umso schwerer wiegt der Vorwurf der Instrumentalisierung, der immer wieder vorgebracht wird, um den Sektor als Ganzes zu diskreditieren.

Der Autor (links) moderiert beim Festival der Meinungen 2020 in der Luhansk-Region ein Panel zu Umweltinitiativen in der Ostukraine. Bild: ZVG.

Oft handelt es sich dabei um eine gezielte Abwehrstrategie von autoritären Herrschenden, die sich von den Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure gestört fühlen. Zugleich ist das Risiko, dass NGOs für illegitime Partikularinteressen instrumentalisiert werden, durchaus plausibel. So beschreibt etwa O’Driscoll, wie USAID in Burundi eine NGO unterstützte, die sich vermeintlich für Demokratieförderung und Menschenrechte einsetzte, deren Führungsfiguren dann aber 1996 einen Staatsstreich durchführten und eine Militärdiktatur installierten.

Ein weiteres Risiko besteht darin, dass sich NGOs aus Abhängigkeit von internationalen Geldgebern nicht mehr in erster Linie den Bedürfnissen ihrer Communities verpflichtet fühlen, sondern den Prioritäten und Interessen der Sponsoren. Für die Communities ist das problematisch, sie sehen sich ihrer Stimme und freien Gestaltungsmöglichkeiten berauben.

Egal ob konstruiert oder real existierend: Autoritäre Präsidenten wie Russlands Vladimir Putin oder der belarussische Diktator Alexander nutzen internationale Verbindungen von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und NGOs, um die Zivilgesellschaft im Land kollektiv zu drangsalieren. Das beginnt bei Schmähkampagnen gegen vermeintliche „ausländische Agenten“ in den staatseigenen und -nahen Medien und endet bei drakonischen Gesetzen, die die Organisationen jeglicher Handlungsmöglichkeiten beraubt.

Lokale Partner als Schlüsselelement

Deswegen müssen internationale Geldgeber die Interessen, politischen und sozialen Ziele, individuellen Situationen und auch Abhängigkeiten ihrer lokalen NGO-Partner sehr genau verstehen, um – selbst versehentlich – keinen Schaden anzurichten.

Hauptinformationsquelle für international arbeitende NGOs, die in volatilen Kontexten mit lokalen Partnerorganisationen gemeinsam Projekte durchführen, müssen immer Bedarfsanalysen aus Sicht ebendieser lokalen Partnerorganisationen sein. Diese Partner sollten in die Projektentwicklung so stark wie möglich einbezogen werden und dabei mit ihren Interessen, Schwierigkeiten und auch Emotionen durchgehend berücksichtigt werden.

Vor allem die Rolle von Emotionen sollte in diesen Prozessen nicht unterschätzt werden: Sowohl die Euromaidan-Revolution in der Ukraine im Jahr 2014 wie auch die breite zivilgesellschaftliche Reaktion auf die gefälschten belarussischen Wahlen und die nachfolgenden Proteste im August 2020 zeigten, wie sich kollektives Handeln durch aufwallende gesellschaftliche Gefühle entwickeln kann. Emotionen wie Empörung und Wut über Ungerechtigkeit und Missstände sind häufig maßgebliche Triebkräfte von Aktivist*innen und beeinflussen die Widerstandsfähigkeit sowie das Durchhaltevermögen von sozialen Bewegungen (Martin 2015).

Keule der Repression

Umgekehrt setzen Herrschende inländische Kritik oft mit Loyalität gegenüber ausländischen Akteuren gleich. Dieser Vorwurf wird etwa immer wieder gegen das belarussische Menschenrechtszentrum Viasna erhoben. Die belarussischen Behörden haben die Organisation bereits 2003 verboten und Viasna seitdem – trotz breiter und kontinuierlicher internationaler Kritik an dem Vorgehen – immer wieder eine Neuregistrierung verwehrt. Das führt dazu, dass der NGO faktisch kein legaler Weg mehr offen steht, um internationale Förderung für ihre Arbeit im Inland zu beziehen.

2011 bis 2014 wurde dann der Gründer und Menschenrechtsverteidiger Ales Bialiatski wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung inhaftiert – weil er finanzielle Förderung für die Arbeit von Viasna organisiert hatte, die ohne Registrierung in Belarus nicht mehr gemeldet werden kann. Infolge der beispiellosen Repressionswelle des belarussischen Regimes gegen die Zivilgesellschaft seit August 2020 wurde Bialiatski am 14. Juli 2021 nun erneut festgenommen. Zuletzt wurden die Viasna-Mitglieder Leanid Sudalenka zu drei and Tatsiana Lasitsa zu zweieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Stand im November 2021: Sieben Mitglieder der Organisation sind hinter Gittern.

Die physische und psychische Bedrohungslage für Menschenrechtsverteidiger*innen in Belarus und anderswo bleibt also sehr real. Gemeinsame Strategien, um die Sicherheit lokaler Partner unter diesen schwierigen Bedingungen bestmöglich zu schützen, sind essentiell für die internationale zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit in autoritären Kontexten.

Zu Belarus läuft derzeit eine ähnliche Kampagne wie damals für die Freilassung von Oleh Senzow. Ziel ist es, die Handlungsfähigkeit renommierter NGOs – wie von Viasna – wiederherzustellen. Beharrlichkeit gilt als Schlüssel zum Erfolg: Die staatlichen Diskreditierungs-Kampagnen gegen Viasna und seine Unterstützer sind ein Zeichen dafür, dass sich das belarussische Regime durch die Arbeit und Kampagne dieser NGOs in ihrer internationalen Legitimität bedroht fühlen. Auch mein aktueller Arbeitgeber Libereco beteiligt sich an diesen Bemühungen.

Druck aufrechterhalten

Zur Vorbereitung des Jahrestags der schweren Welle von Festnahmen und Durchsuchungen beim Menschenrechtszentrum Viasna trafen sich internationale Menschenrechtsorganisationen im September 2021, um eine Kampagne zur Freilassung der politischen Gefangenen von Viasna und den hunderten von anderen politischen Gefangenen in Belarus zu starten. Wir trafen uns in der Überzeugung, dass zivilgesellschaftliche Allianzen und anhaltender Druck auf autoritäre Regime Früchte tragen können. Und wir trafen uns in der Hoffnung, dass auch wir bald jubelnd sagen können: Jetzt sind alle politischen Gefangenen frei.

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