21. Dezember 2012

Die Opferpolitik des Friedensprozesses in Nepal

Die Bevölkerung Nepals hatte bereits beinahe ein Jahrzehnt unter dem Bürgerkrieg gelitten, welcher insbesondere in den ländlichen Gebieten tobte, als dieser Kathmandu erreichte. Außerhalb des Cafes in welchem ich sitze, so erzählt man mir, gab es starke Kämpfe zwischen der Maoistischen People’s Liberation Army und Nepals Armee. Es fällt schwer sich dies vorzustellen in diesem Land, wo einem wie es scheint jeder mit einem freundlichen Kopfschütteln Tee anbietet. Eingebetet in das Himalaya Gebirge und mit vielen alten Tempeln liegt ein gewisser Zauber auf diesem Land. Doch unter der Oberfläche dominieren starke soziale Ungleichheiten, nach wie vor untermauert von einem strengen hinduistischen Kastensystem. Zugang zum ‚Rechtsstaat’, politische Einflussnahme, und ein Leben über dem Existenzminimum, so scheint es, ist reserviert für Kathmandus politische und wirtschaftliche Elite. 

Viel und wenig zugleich hat sich verändert seit dem die Konfliktparteien den Friedensvertrag in 2006 unterzeichnet haben. Die Maoisten sind aus dem Untergrund zu einer zentralen politischen Partei geworden, welche mittlerweile ihre ehemaligen Kämpfer in die Armee integriert oder diese zurück in die Gemeinde geschickt hat. In der ersten Sitzung des neu berufenen Parlaments wurde die Abschaffung der Monarchie beschlossen. Nepal ist heute eine konstitutionelle demokratische Republik. Im Gegensatz dazu sind strukturelle Veränderungen eher rar gesät und die folgen des Konflikts – sowie der Implementierung des Friedensprozesses – haben neue Konfliktlinien geschürt. Insbesondere die Annerkennung und Entschädigung von Opfern des Konflikts leidet unter dem politischen Gerangel der Parteien. Als ehemalige Parteien des Konflikts hat keine Seite großes Interesse an einer Aufklärung von den Verbrechen der Vergangenheit (und Gegenwart).

Heute, sechs Jahre nach dem offiziellen Ende des Konflikts, warten viele Opfer immer noch auf offizielle Annerkennung und Aufklärung von begangenen Verbrechen. Viele Menschen wurden ‚verschwunden’, von den Maoisten und der Armee gleichermaßen (wenn auch in größerer Zahl von der Armee). Ohne Todeszertifikat, so erklärt eine junge Frau Anfang 20, kann sie ihre Witwenrente nicht in Anspruch nehmen. Eine andere Frau erzählt von ihren Kindern, welche die Schule abrechen mussten, weil der Haupternährer der Familie nachts ‚verschwunden’ wurde. Eltern wissen nicht ob, und unter welchen Umständen ihr Sohn gestorben ist. In vielen Fällen konnten Täter identifiziert werden, es fehlt jedoch der politische Wille Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Täter laufen frei herum, werden in manchen Fällen sogar innerhalb von Parteien befördert, und Versuche diese Straflosigkeit zu adressieren werden im besten Falle ignoriert.

Um endlich Gewissheit über den Verbleib von ‚verschwundenen‘ Familienmitglieder zu erhalten, dafür setzt sich das National Network of Families of Dissappeared and Missing Nepal (NEFAD) ein. Eine von vielen lokalen Initiativen, welche für die Rechte von Opfern des Konflikts kämpft. Ob sie gehört würden, frage ich. Noch nicht, aber sie lassen die Menschenrechtsverletzungen des Konflikts nicht in Vergessenheit geraten und kämpfen gegen die Diskriminierung der Opfer. Letzte Woche wurde mit einem beeindruckenden Event die Kampagne ‚Invisible No More’ gestartet. 

Am nächsten Tag stehe ich vor einem hoch bewachten Tor und versuche zu erklären, dass ich ein Treffen im Ministerium für Frieden und Wiederaufbau habe. Heute würden keine Besucher vor ein Uhr reingelassen werden, erklärt man mir. Nein, auch nicht mit Termin, Reisepass und Besucherausweis. Kurze Zeit später fährt ein Wagen mit Fahrer vor und bittet mich ein zu steigen (Nun gut, dieses Treffen war schwer zu bekommen). Wir fahren zu einem in der Nähe gelegenen Regierungsgebäude, wo es nach langem warten endlich zum besagten Treffen kommt. Wie es aussehe, mit der Truth and Reconciliation Commission und derCommssion on Dissappearances? Beide waren im Friedensabkommen von 2006 vorgesehen. Das Ministerium hätte, in Konsultation mit den politischen Parteien und dem Gerichtshof, verschieden Entwürfe hierfür vorbereitet (die Zivilbevölkerung war kaum Vertreten in diesem Prozess). Der letzte Entwurf läge nun seit mehreren Monaten bei dem Präsidenten um abgesegnet zu werden. Was zurzeit beim Präsidenten liegt ist eine Entwurf welcher, so die Befürchtungen, nicht internationalem Recht entsprechen werde. Beide vorgesehenen Institutionen wurden mittlerweile zu einer zusammen gefasst und die – scheinbar endlose – Verzögerung in der Umsetzung ist Besorgnis erregend. Insbesondere aber die Klausel, dass die politischen Parteien das Recht für sich reservieren die Zusammensetzung des Komitees dieser Institution zu bestimmen, lässt die Hoffnung auf einen ehrlichen Prozess schwinden. Ich fange an zu verstehen, wie die extreme Politisierung des Friedensprozesses auf nationaler Ebene die Befriedung des Landes erschwert, wenn nicht verhindert.

Wieder ist es die Bevölkerung die unter dem politischen Machtkampf leidet. Umso erstaunlicher ist die Energie mit welcher lokalen Initiativen, wie NEFAD, vorangetrieben werden. Nicht mit Hilfe des Staates, sondern trotz der Aktivitäten auf zentraler Ebene. Der wirkliche Friedensprozess in Nepal findet auf lokaler Ebene und in informellen Zirkeln statt. Die Hoffnung ist, dass dieser stark genug ist, dass sozialer Zusammenhalt in Nepal nicht mehr ein politisches ‚Buzzword’ ist, sondern gelebte Realität.