29. Mai 2013

Eindrücke aus dem Zwischentreffen in und um Addis Abeba, Äthiopien

Aus allen Windrichtungen kommen wir angeflogen, um uns während knapp zwei Wochen ein Land zu erschliessen in zahlreichen Gesprächen, Diskussionen, während nicht enden wollenden Busfahrten und auf Spaziergängen zu Felsvorsprüngen und Wasserfällen. Äthiopien sei eine Welt für sich, sagten viele hier in Westafrika, und ich wusste genau, was sie meinten, als ich mich erstmals durch Addis Abeba bewegte: Ein anderes Afrika.

Das Land ist als einziger Staat des „dunklen“ Kontinents der Kolonialisierung entkommen, beheimatet die Anfänge der Menschheitsgeschichte, und zwei seiner Bewohner haben, der Legende nach, in einem leidenschaftlichen Ehestreit den Kaffee erfunden. (In aller Kürze: Erzürnt soll die Frau dem Mann eine Handvoll Kaffeebohnen hinterher geworfen haben, von denen einige im Feuer landeten. Der durch die Hütte strömende Duft des gerösteten Kaffees liess die beiden ihren Streit vergessen und in Minne machten sie sich daran, das weltweit begehrte Heissgetränk zu erfinden.) Die Hälfte der Fläche Äthiopiens liegt höher als 1’200 Meter über Meer. Das Land nimmt auf dem Index für menschliche Entwicklung der UN den Rang 173 (von 186) ein, knapp ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und 85% der Äthiopierinnen und Äthiopier sind in der Landwirtschaft tätig. Die meisten Bäuerinnen und Bauern pflügen ihre Äcker mit Pferden und Ochsen, ohne den Einsatz jeglicher moderner Hilfsmittel. Nie in meinem Leben habe ich so viele Esel und Maultiere gesehen, die als Transporttiere genutzt werden und Wege beschreiten, die für motorisierte Verkehrsmittel bis heute unpassierbar geblieben sind. Der Vielvölkerstaat zählt über 80 ethnische Gruppen, von denen 75 rechtlich anerkannte „Nationalitäten“ sind, denen Art. 39 der Verfassung das Recht auf Selbstbestimmung inklusive Recht auf Sezession garantiert (allerdings unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Mehrheit der anderen Nationalitäten). Auch wenn damit das Quorum für die selbstbestimmte Abspaltung einer Nationalität sehr hoch ist, glauben viele, dass die Symbolkraft dieses Artikels wichtig ist für das Autonomiestimmungsbarometer der Nationalitäten. Im Alltag dürften jedoch dem Recht der Nationalitäten auf Gebrauch der Sprache, auf Ausübung der Kultur und Bewahrung der Geschichte, die ebenfalls durch diesen Artikel garantiert sind, weit grössere praktische Bedeutung zukommen.

In atemlosen Tagen, an denen Termine sich jagen und unser Bus sich agil durch den stockenden Verkehr der dreieinhalb Millionen Menschen beherbergenden Metropole schlängelt, widmen wir uns den grossen Problemkreisen menschlicher Existenz, die auf dem afrikanischen Kontinent die Agenden der Regierungen stärker prägen als anderswo: Krieg und Frieden, Korruption und Rechtsstaat, Menschenrechte und Selbstbestimmung, Entwicklung, Ermächtigung und Unterwerfung, individuelle Lebenschancen und kulturelle und religiöse Tradition, Armut und Reichtum. In vielen Begegnungen wird erfahrbar, wie sich alle diese grossen Fragen in einer Biographie spiegeln. Es sind einzelne Stimmen, die wir einfangen, ein paar Blitzlichter, die wir auf eine Handvoll Themen werfen – und von einigen möchte ich kurz berichten.

„Der einzige Weg, Korruption zu bekämpfen, ist die Etablierung eines demokratischen Gesellschaftssystems“, sagt ein Professor für Wirtschaftswissenschaften, den wir an der Addis Ababa University treffen. Seine Vision für ein weniger korruptes Afrika sieht nebst Anti-Korruptionskommissionen und Anti-Korruptions-Gesetzgebungen einen „Marshall-Plan“ für Afrika vor, der eine regelrechte Veränderung der Kultur des Kontinents anstrebt. Wenn es Afrika nicht schaffe, über häusliche Gewalt, Vergewaltigung, HIV/Aids, Genitalverstümmelung und Kinderheirat anders nachzudenken, nicht nur den Regierungskreisen der gut Ausgebildeten, sondern in der gesamten Bevölkerung, inklusive der kulturellen und religiösen Führungsriege, bleibe es in den Teufelskreisen von Unterentwicklung, Abhängigkeit, bewaffneten Konflikten, schlechter Regierungsführung und Korruption gefangen. Während unseres Gesprächs spannt der Professor einen eindrücklichen thematischen Bogen und sucht etwas Licht in die undurchsichtigen Windungen der Korruption und ihren Nährböden zu bringen. Sein Fazit ist klar: Korruptionsbekämpfung ist nur um den Preis einer kulturellen Veränderung zu haben, deren Motor der Rechtsstaat und die Menschenrechte sind.

„Afrikanische Staatsoberhäupter müssen endlich die Verantwortung für dem Umgang mit den bewaffneten Konflikten in ihren Ländern übernehmen“, sagt ein Vertreter der Wirtschaftskommission für Afrika der UN. Anders sei die Industrialisierung des Kontinents und damit seine Befreiung aus postkolonialen Abhängigkeitsstrukturen nicht zu bewerkstelligen. Solange sich der UN Sicherheitsrat zu 75% mit Afrika befasse, sei es nicht möglich, glaubwürdig das Bild eines wirtschaftlich erwachenden Kontinents zu vermitteln und zu verkaufen. „Von einer zwölfzackigen Toblerone-Schokolade, deren Kakao aus der Côte d’Ivoire stammt“, sagt der UN-Funktionär, „bleiben ganze zwei Zacken Wertschöpfung in dem westafrikanischen Land, der Rest wird anderswo generiert.“ Das müsse sich ändern. Die Hauptherausforderung sei dabei die Frage, wie effektive Industrialisierungskonzepte gestaltet und umgesetzt werden können, um die wirtschaftliche Wende zu bewerkstelligen. Dabei müsse man sich an China und den Schwellenländern orientieren, denen in den letzten Jahrzehnten genau das gelungen sei. Niemand komme heute mehr nach Afrika, um Wohltätigkeit zu betreiben. „Now it’s business!“ Dabei müsse Afrika dringend einen Weg finden, mit neuen Partnern wie China oder der Türkei umzugehen. Die Wirtschaftkommission für Afrika hat einen weiten Blick: Sie ist gerade dabei, gemeinsam mit der Afrikanischen Union und der Afrikanischen Entwicklungsbank eine Visionsstrategie 2063 zu entwickeln. Zu Chancen, die in den kommenden 50 Jahren genutzt werden sollen, zählen die demografischen Vorteile Afrikas und die Geschwindigkeit der Urbanisierung weiter Bevölkerungsteile in zahlreichen Ländern, Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft sowie, schliesslich, die Industrialisierung des Kontinents, die den Job-Motor in Gang bringen und die Abhängigkeit vom Import verarbeiteter Produkte beenden soll.

„Die Arbeitsbeziehung mit den UN ist immer mehr eine On- and Off-Beziehung“, sagt ein Mitglied des Senior Managements von UNDP Äthiopien. Und fügt ironiefrei hinzu: „Take advantage of this!“ Die Biographie dieser beeindruckend kompetenten und gut gelaunten Frau beweist, dass, wo ein Wille ist, sich auch ein Weg auftut. Unter der Voraussetzung, dass man weiss, was man will. Da sämtliche Bewerbungen um Doktoratsfinanzierungen oder die Aufnahme in Förderprogramme (inkl. Bosch-Kolleg) scheiterten, brach die als junge Frau auf eigene Faust auf und suchte im Kongo ihr Glück in kurzen Anstellungen, sammelte Erfahrungen, blieb flexibel und fand schliesslich den Weg in die UN via YPP. Jenseits der Komfortzonen von externer Finanzierung und unterstützenden Netzwerken. Ihr Appell an Flexibilität, Unabhängigkeit und Unbeirrbarkeit in einem enorm unsicheren und unvorhersehbaren UN-Jobumfeld war nicht entmutigend, sondern inspirierend und auffordernd. Schliesslich sei es nicht so viel Aufwand, das P-11 Formular aktuell zu halten. Und: „Es gibt immer Alternativen zur UN, das Leben ist ein Patchwork!“

Das Zwischentreffen heisst nicht nur so, sondern ist wirklich die Verortung eines Treffens zwischen den Welten. Zwischen Kontinenten. Zwischen Stagen. Zwischen Lebensabschnitten. Ein gemeinsames Innehalten im Seiltanz eines wundersamen Jahres. Das uns alle herausfordert, den Balanceakt zwischen Entdecken und Verorten, Fliegen und Wurzeln schlagen, Aufbrechen und Ankommen immer wieder neu zu wagen. Es ist zauberschön, in diesem Wagnis nicht allein zu sein. Mit dieser Gewissheit und einem Lied auf den Lippen brechen wir unsere Zelte wieder ab und ziehen davon, in alle Himmelsrichtungen. May the road rise to meet you, may the wind be always at your back, may the sun shine warm upon your face and rain fall soft unpon your fields, and until we meet again, until we meet again…