Editorial: Gescheitert?
Springen wir zu selten? Springen wir zu oft? Auseinandersetzung mit der Kehrseite der Erfolgsgesellschaft.
8. September 2021
Ein Beitrag von Jakob Preuss
„Filmemacher, Plaidoyist, Jurist, manchmal Aktivist, zumeist Humanist, leider selten Flötist, zuversichtlicher Pessimist und Fan von Jacques le Fataliste (auf Deutsch auch "Jakob und sein Herr" )“
08.09.2021 — Tunis, Tunesien
Wie ich zum lizenzierten Friedhofsführer wurde und was ich dabei über irdischen Erfolg lernte.
Eine Art Meteorit aus Muschelkalkstein, der von der Erde wie eine Rakete gen Himmel strebt, ein Kreuz an der Seite, das aussieht, als ob es durch die Antriebsgeschwindigkeit zur Seite gedrückt wird und eine Art Krone an der Spitze, die ursprünglich in Gold gefasst war. Dieser recht kleine aber sehr imposante Grabstein, gestaltet von dem berühmten Architekten Max Taut, ist wohl einer der eindrücklichsten auf „meinem“ Friedhof in der Bergmannstraße in Berlin Kreuzberg. Damals ein Skandal, da er so radikal mit den marmornen Engelsfiguren brach, die bis dahin Hochkonjunktur gehabt hatten. Ein Zeugnis des Aufbruchs in der Weimarer Zeit.
Für wen er aufgestellt wurde, kann man nicht mehr lesen, denn Muschelkalk verwittert und die Beschriftung verschwand mit den Jahren. Die Denkmalpflege hatte genug damit zu tun, dafür zu sorgen, dass der Stein sich nicht ganz auflöst. Wem Lesbarkeit auf Dauer wichtig ist, sollte schwarzen Granit als Grabstein wählen.
Um die Zersetzung des hellen Meteoritengrabs aufzuhalten, hat die Denkmalpflege eine Grabpatin gefunden — ein ganz neuer Trend: Man sucht sich zu Lebzeiten ein Grab aus, zumeist ein kunsthistorisch bedeutendes, das man pflegt, und wird nach Ableben dann dazugebettet. Die Patin hilft finanziell bei der Instandhaltung mit und wird in alle Entscheidungen diesbezüglich mit einbezogen.
Beim Meteoritengrab entschieden sich Denkmalschutz und Patin dafür, die Beschriftung nicht zu erneuern. Der Patin gefiel gerade das Namenlose, was die Vergänglichkeit so gut symbolisiert — man kann seiner Fantasie freien Lauf lassen und darüber rätseln, wer da wohl begraben liegt. Dass der Stein für den Dampfwäschereibesitzer Reibedanz aufgestellt wurde, spielt ja eigentlich auch keine Rolle.
Ob die Patin dann auch keine Namenstafel mehr will? Wie und wo, wodurch und von wem, und vor allem: wofür wollen wir erinnert werden? Diese existenzielle Frage stellt sich auf dem Friedhof in verschiedensten Formen. Und doch: Obwohl Sepulkralkultur unglaublich viel über eine Gesellschaft aussagt, über religiöse und weltliche Vorstellungen, über das ewige Streben des Menschen nach Unsterblichkeit und das Hadern mit der Vergänglichkeit, über Selbstdarstellung und Selbstverständnis, über Kunst, Politik und Moral, ist es doch ein verkanntes Gebiet, wie mir scheint.
In manchen Kulturen gibt es Berührungsängste beim Besuch von Friedhöfen: so erzählte mir ein jüdischer Freund bei einer noch improvisierten Testführung, dass er sich nicht erinnern könne, je über einen Friedhof spaziert zu sein. Ihm wurde beigebracht, dorthin ginge es erst, wenn die Eltern gestorben sind. Auch ein muslimischer Freund von mir fand die Idee eines Spaziergangs auf einem Friedhof eher befremdlich — nur zur Grabpflege wäre ein Besuch dort angemessen.
Bei mir war das immer schon anders. Einer meiner Lieblingsfilme ist „Harold & Maude“, in dem sich das ungewöhnliche Paar wegen ihrer Vorliebe für Begräbnisse auf einem Friedhof kennenlernt. Der junge Harold fühlte sich zu dem Ort hingezogen, weil seine Mutter nur ein einziges Mal wirkliche Gefühle für ihn gezeigt hatte: nämlich als sie glaubte, er sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die 79-jährige Maude hingegen will sich auf ihren eigenen Freitod vorbereiten und sieht den Tod ohnehin als den krönenden Abschluss des Lebens an. Außerdem hat sie das Gefühl, dass bei Beerdigungen die Menschen sich kurz auf das Wesentliche besinnen und innehalten.
Die meisten Christen, Atheisten und andere in Berlin kennen ebenfalls keine Scheu und gerade während der Pandemie wurden Spaziergänge auf Friedhöfen zu einer beliebten Abwechslung. So ging auch ich immer wieder über den wunderschön verwunschenen Alten Luisenstädtischen Friedhof bei mir vor der Tür und fing mehr und mehr an, mich für die Begrabenen aber auch die Begräbniskultur zu interessieren. Wie funktioniert eigentlich so ein Friedhof? Wie geht man mit Platz(mangel) um? Wer bekommt ein Ehrengrab? Wer sind all diese Leute mit ihren großen Gruften, die langsam zerfallen?
Nach monatelangen Recherchen klingelte ich schliesslich bei der Friedhofsverwaltung, um meine noch offenen Fragen beantwortet zu bekommen. Und erwähnte dabei, dass ich es schade fände, dass es keine Führungen gäbe. Nach zwei ausgedehnten Spaziergängen, während derer sich Herr Dr. Kuhn, Kunstwissenschaftler und Oberguru des evangelischen Friedhofsverbands, von meinem Wissen und auch meiner Pietät überzeugte, erhielt ich schliesslich die Erlaubnis, solche anzubieten.
Es ist verwunderlich, wie früh sich erfolgreiche Unternehmer in der Gründerzeit ihre Erbbegräbnisstellen sicherten und teils noch zu Lebzeiten erbauen ließen. Der Alte Luisenstädtische Friedhof wurde 1831 eröffnet und beherbergt somit viele große Familiengräber aus der Zeit der Industrialisierung. Hier ruhen die Fabrikanten und Pioniere neuer Technologien, die in der Luisenstadt reich wurden. Obwohl ich die Gräber mit ihren Engel- und Jesusskulpturen aus dem 19. Jahrhundert oft abstrus überproportioniert finde, bin ich doch froh, sie zu zeigen zu können.
Denn wie würde eine Führung auf dem calvinistischen Friedhof aussehen, auf denen meine Großeltern begraben sind? Dort sind alle Grabplatten gleich: liegende graue Steine, nur mit Namen und Daten in gleicher Schriftart versehen. Alle Menschen sind gleich nach dem Tod, das ist die zugrundeliegende Botschaft, die nüchtern und ohne Schnörkel ausgedrückt wird. Dieser Friedhof in Wuppertal hat etwas Beruhigendes und Entrücktes — weit entfernt scheinen all die eitlen Versuche, sich auch über den Tod hinaus noch als „Hausbesitzer“ herauszustellen oder mit anderen materiellen Errungenschaften wie „Gutsbesitzer“ zu prahlen, wie es in der Bergmannstraße durchaus üblich ist. Ähnlich ist es auch auf den meisten muslimischen Friedhöfen, zum Beispiel in Tunesien — alle Steine sind schlicht und weiß von gleicher Form. Bildliche Darstellungen gibt es keine, nur Suren aus dem Koran, manchmal etwas Kalligraphie, Namen und Daten. Auch hier soll nicht geprahlt und geprotzt werden nach dem Tod.
Es ist ein schönes Konzept und mir sicherlich näher als der Versuch, die Nachwelt durch neo-klassizistische Großgruften von der eigenen Wichtigkeit zu überzeugen. Und doch machen gerade die kunsthistorisch interessanten Skulpturen und die Fülle von individualistisch gestalteten Grabsteinen den Charme des Alten Luisenstädtischen aus. Von Jugendstil über Moderne, von ägyptisierenden zu kubistischen Gräbern, alles aus zwei Jahrhunderten ist dabei. Ein kleines Wunderland voller Geschichten und teils eklektischem ästhetischem Potpourri. So wie das Meteoritengrab aus der Weimarer Zeit mit seinem expressionistischen Einschlag.
Und dennoch: Falls ein Grab nicht denkmaltechnisch relevant oder durch die Nutzungsberechtigten verlängert wird, ist bei Christen nach 20 Jahren Schluss mit dem Gedenken. Wobei zumeist nicht das Geld die entscheidende Rolle spielt, sondern die Frage, ob Angehörige noch weiter das Bedürfnis haben, einen Ort zum Erinnern zu haben. Und so erreicht man wohl ganz nach Platon die größte Annäherung an die Unsterblichkeit durch seine Nachkommen oder weil man durch die eigenen Ideen oder sein Wirken weiterlebt.
Obwohl das bei den Nachkommen auch nach hinten losgehen kann: Das arg lädierte Erbbegräbnis von Carl Justus Heckmann, einem Unternehmer in der ehemaligen Luisenstadt im heutigen Berlin-Kreuzberg, in dessen Fabrik Adolf Menzel viele Motive für seine Gemälde fand, wurde erst vor ein paar Jahren durch eine neu angebrachte Tafel verschlimmbessert. Die Inschrift liest sich eher wie ein Wikipedia-Eintrag, als ein gelungener Nachruf. Besonders deplatziert: der Hinweis auf seine vielen Kinder, die — Zitat — „fast alle ausnahmelos erfolgreich waren“. Was will uns damit gesagt werden? Ein Seitenhieb auf die, die nicht erfolgreich waren? Und wie wurde das bemessen? Was für ein törichter Satz wenn es um Persönlichkeit und Spiritualität gehen sollte…
Friedhöfe haben derzeit eine schwere Zeit, denn immer weniger Menschen entscheiden sich für ein Erbbegräbnis. In Berlin sind es mittlerweile 80 Prozent, die sich einäschern lassen — und von diesen dann noch mal 40 Prozent, die eine anonyme Bestattung wollen. Orte werden unwichtiger, digitales Gedenken ersetzt teilweise das traditionelle Trauern. Können die Grabpatenschaften, ganz dem modernen Nachhaltigkeitsgedanken entsprechend, Friedhöfen neue Impulse geben?
In jedem Falle sind Friedhöfe ein toller Ort, um sich alle diese teils existentiellen, teils amüsanten Fragen zu stellen und mit besonderem Stolz führe ich nunmehr „Lizensierter Friedhofsführer“ unter „divers“ in meinem Lebenslauf auf!
Hier diskutieren Fachleute ihre Erfahrung aus der Praxis. Alle drei Monate erscheint ein thematischer Blog zu einer drängenden Frage der internationalen Politik und Zusammenarbeit.