Ach, Schengen ist ein Ort?
Hört man „Schengen,“ denkt man vielleicht an das Abkommen über den freien Personen- und Güterverkehr in Europa; wenn überhaupt.
18. April 2014
Ein Beitrag von Sarah Hasselbarth
Wenn sie in Deutschland ankommen, haben sie qualvolle und gefährliche Wege hinter sich. Flüchtlinge aus Syrien hoffen hier auf ein friedliches Leben fernab von Krieg und Gewalt. Sie wollen in Deutschland arbeiten oder studieren. Doch im System der Ämter werden hier Flüchtlinge zu Aktenzeichen.
„Was sie wissen wollten, war, wie ich hergekommen bin.“ Als er sich auf der Polizeistation in Deutschland Asyl suchend meldete, wird Hamza (29) nur diese eine Frage gestellt. Der junge Mann ist einer von über zweieinhalb Millionen Syrern, die seit Beginn des Aufstandes gegen Präsident Assad im Februar 2011 aus ihrem Land fliehen mussten. Weil Syriens Nachbarländer bereits Tausende von Flüchtlingen aufgenommen haben, und und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist, geht die Reise für immer mehr Syrer weiter – nach Europa oder Amerika. Verzweiflung und Perspektivlosigkeit sind die Antriebskräfte dieser Menschen auf ihrem mühseligen Weg in den Westen, den sie hauptsächlich aus Bildern aus dem Fernsehen kennen. Und Hoffnung – auf Arbeit, eine menschenwürdige Unterkunft und einen Schulplatz für die Kinder.
Eigentlich möchten sie ihr ganz normales Leben weiterführen. Yosra, eine junge Arabischlehrerin und Mutter zweier Kinder, lebt seit einem halben Jahr in Beirut und hofft auf eine Umsiedlung nach Schweden oder in die USA durch die Vereinten Nationen. Warum diese beiden Länder? „Schweden nimmt in Europa am meisten Syrer auf, sagt man. Und die USA, weil ich ja schon die Sprache spreche“, erklärt sie in sehr gebrochenem Englisch. Sie könne dort weiter unterrichten, am besten an einer Universität in einer großen Stadt. Sie ist zuversichtlich, dass sie dort genug Geld verdienen wird, um sich und ihren beiden Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen.
Ähnliche Vorstellungen hatte auch Hamza. Er hat den Libanon nach einem halben Jahr verlassen und sich nach Deutschland durchgeschlagen. Deutschland war für den jungen Syrer „the Verstand of the world“. Er dachte, die Leute, die er auf den Ämtern trifft, fragen ihn, wer er sei, was er gelernt hätte; und er dachte, dass sie ihm helfen würden, Arbeit zu finden und ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland zu führen. Doch Hamza ist längst in der Realität angekommen.
Sprachbarrieren und eine fremde Kultur sind nur ein Teil dieser Realität. Die größte Herausforderung ist das bürokratische System, das aus Menschen, die von Krieg und Flucht traumatisiert sind, erst einmal Akten macht und Träume von einem ganz normalen Neuanfang platzen lässt. Monatelang, manchmal Jahre, müssen sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf einen Termin warten, um endlich nicht nur ihren Fluchtweg, sondern auch ihre Fluchtgründe und ihre Geschichte darlegen zu dürfen. Dann erst wird auf den Ämtern über ihr weiteres Schicksal entschieden. Während dieser Zeit werden sie in Heime verwiesen, wo sie sich mit mehreren, zumeist fremden Menschen, ein Zimmer teilen müssen. Privatsphäre: Fehlanzeige. Sie dürfen nicht arbeiten und auch nicht studieren.
Hamza wartet nun seit über einem Jahr auf seinen Termin beim BAMF. Wie er seine Tage verbringt, kann er nicht sagen. Nachts geht er zwei Stunden putzen in einem Restaurant. Natürlich ist das illegal. Solch einen Job hätte er früher nie angenommen – nur, gar kein eigenes Geld zu verdienen, findet er noch erniedrigender. „Ich will von Deutschland keinen Heimplatz, kein Geld und keine Versicherungen. Alles, was ich möchte, ist die Freiheit, hier mein Studium zu beenden und zu arbeiten. Ich möchte meinen eigenen Beitrag zu diesem Verstand leisten, den ich immer so bewundert habe.“ Ob er trotzdem hierher gekommen wäre, wenn er all das vorher gewusst hätte? „Nein. Niemals.“
Es gibt in unserer Gesellschaft nur noch wenige Menschen, die Flucht und Vertreibung selbst miterlebt haben. Vielleicht ist es an der Zeit, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sich die Schicksale von Yosra und Hamza auch in unseren jüngeren Familiengeschichten wiederfinden. Unsere Großeltern und Eltern haben sich durch ebenso viel Leid und Elend gekämpft, um ihren Kindern und Enkeln, uns, eine Zukunft zu ermöglichen – und sie waren auf ebenso viel Unterstützung und Vertrauen angewiesen. Auf jeden Fall ist es an der Zeit, innezuhalten und das Schicksal des Menschen hinter dem Aktenzeichen zu sehen.