12. August 2016

„Es zerren starke Fliehkräfte an Europas Fundamenten“

Unsere Frage an den Außenminister: Herr Steinmeier, welche ist aus Ihrer Sicht eigentlich die größte Krise, mit der Europa gerade zu kämpfen hat? Und wie können die BürgerInnen zur Lösung beitragen?

Frank-Walter Steinmeier:

Es fällt mir schwer, eine einzlene Krise herauszupicken – es ist vielmehr ein ganzes Krisengebräu, mit dem wir es derzeit in Europa zu tun haben: Die noch immer nicht vollständig überwundene Finanzkrise, die ungelöste Flüchtlingskrise, der Brexit, islamistische Terroranschläge, die Konfrontation mit Russland.

Viele Errungenschaften, die uns selbstverständlich erschienen und die wir über Jahrzehnte hinweg mühsam aufgebaut haben, gehen gerade durch eine schwere Bewährungsprobe. Fakt ist: Es zerren starke Fliehkräfte an Europas Fundamenten.

Das schürt die Sehnsucht nach Grenzen und nach starken Nationalstaaten, um auf diesem Weg vermeintlich Kontrolle und Sicherheit wiederzugewinnen. Und leider stehen in ganz Europa Populisten bereit, die hier einfache Antworten servieren: Schotten dicht, Fremde raus, jeder ist sich selbst der Nächste. Ich kann davor nur warnen: Angst ist ein schlechter politischer Ratgeber. Es ist nicht nur naiv, sondern grob falsch, den Menschen vorzugaukeln, dass man auf Probleme wie die Terrorbedrohung, die Krisen in unserer Nachbarschaft oder das Migrationsmanagement nationale Antworten geben könnte. 

Für mich folgt daraus ein klarer Handlungsauftrag für die Politik und für die Gesellschaft: Wir Politiker müssen zeigen, dass wir die aktuellen Krisen bewältigen können, indem wir dem Rückzug ins Nationale ganz bewusst etwas entgegensetzen – nämlich Kooperation, Kompromissbereitschaft und Multilateralismus, trotz oder gerade weil sich innerhalb der EU einige dagegen entschieden haben. 

© photothek.net

Was Politiker tun, ist das Eine. Der Einzelne steht aber hier ebenso in der Verantwortung. Noch wirksamer und auch bitter notwendig ist, dass sich die Bürgerinnen und Bürger selbst unmittelbar für die Europäische Union, für unsere Werte und für die Demokratie starkmachen. Das geschieht auch schon überall: Nicht nur in akademischen Diskussionen an Schulen und Hochschulen, sondern ganz konkret durch Schüleraustauschprogramme, Kulturdialog, Integrationsprojekte. Wir dürfen den rechten Populisten und ihren Phrasen keinen Zentimeter in unseren Köpfen schenken und müssen ihre einfachen Antworten als das entlarven, was sie sind: Willentliches Scharfmachen gegen andere, Hetze gegen Demokratie und mörderische Brandstiftung.

Trotz aller Krisen habe ich die Hoffnung, dass sich die Europäische Union weiter nach vorn entwickeln kann. Wenn wir es schaffen, die EU in der Krise zusammenzuhalten, wird sie hinterher zwar nicht dieselbe sein wie vorher – aber wenn wir es richtig angehen, kann sie eine stärkere sein!