16. November 2012

Gedankenspiele

Es sind unruhige Zeiten im Nahen Osten. Der Bürgerkrieg in Syrien hält an. Längst hat sich der Konflikt in den Libanon hineingefressen, wo es immer wieder zu Kämpfen kommt. Die Grenzen zur Türkei und inzwischen auch zu Israel sind unruhig. Über Gaza wütet ein neuer Krieg. Die Palästinenser stehen vor ihrem Antrag auf den Status als Beobachterstaat bei der UN und Israel droht mit der Annektierung der Siedlungen im Westjordanland als Folge. Nun erfährt das einzige scheinbar stabile Land in der Region die heftigsten Demonstrationen seit Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings in der Region vor fast zwei Jahren. Wo wird das alles hinführen? Ein paar Gedankenspiele über die Zukunft des Nahen Osten.

Am Dienstag verkündete die jordanische Regierung die Aufhebung der Subventionen für Gas und Öl. Damit erhöhen sich die Ausgaben für Benzin um 14%, jene für Heizgas um 28%. Der Preis für Kochgas stieg um ganze 54%. Minuten danach strömten Jordanier im ganzen Land auf die Straße. Von Irbid im Norden bis Aqaba im Süden ziehen sich seitdem die Proteste. Tankstellen brennen. Regierungseinrichtungen und Polizeistationen werden attackiert. Menschen wurden verletzt. Die ersten Toten werden gemeldet. Es ist kein Aufstand der Muslimbrüder und kein Aufstand von Aktivisten. Es ist ein Aufstand der Bevölkerung, ein Aufstand von Menschen, für die dieser Schritt existenzbedrohend ist. Nicht nur die Ausgaben für Gas und Öl steigen. Damit verbunden sind Preise für Nahrungsgrundlagen wie Brot. Die meisten Jordanier verdienen nicht mehr als 200 bis 350 Euro im Monat. Das reicht bisher kaum zum Überleben für eine jordanische (Groß)familie. Jetzt reicht es gar nicht mehr.

Die Aufhebung der Subventionen kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Der Winter steht vor der Tür. Im Norden Jordaniens belasten 200 000 syrische Flüchtlinge (Zahl steigend) die Ressourcen des Landes: Sie beanspruchen das ohnehin knappe Wasser des Landes, die wenigen Nahrungsmittel. Die Schulen sind überfüllt, die Krankenhäuser ebenfalls. Durch den Krieg in Syrien ist der Handel nicht nur zwischen Syrien und Jordanien lahm gelegt: Syrien stellte eine wichtige Handelsroute für Jordanien in die Türkei und nach Europa dar. Die ohnehin schwache jordanische Wirtschaft liegt brach, die Arbeitslosigkeit steigt. Syrische Arbeitskräfte sind hoch qualifiziert und zudem günstiger als jordanische: Arbeitgeber entlassen ihre jordanischen Angestellten. Aufgrund der hohen Wohnungskonkurrenz (ca. 2/3 der Flüchtlinge leben nicht in den Camps, sondern in den Gemeinden) werden Wohnungen für Jordanier fast unbezahlbar.

Die jordanische Regierung hat Gründe für die Aufhebung der Subventionen. Sie steckt bis zum Hals in Schulden und steht international mit dem Rücken zur Wand. Aber was ist gefährlicher für die Internationale Gemeinschaft – und für Jordanien selber? Ein verschuldetes Land oder ein weiteres Land im Nahen Osten, dass in einen Aufstand, vielleicht in einen Bürgerkrieg verfällt?

Und hier kommen die Gedankenspiele:

Seit 20 Monaten gibt es in Jordanien Proteste. Leise Proteste, sporadisch, gegen die Regierung. Den König in der Öffentlichkeit zu kritisieren, steht unter Strafe. Dieses Mal richtet sich der Protest auch gegen den König. Und gegen die syrischen Flüchtlinge im Land – eine Last, die die Jordanier schon vor den Preiserhöhungen kaum tragen konnten und unter der sie jetzt zusammenbrechen werden.

Was passiert, wenn der König fällt? Das System zusammenbricht? Jordanien definiert sich durch Stammeszugehörigkeit und Palästinensische Flüchtlinge. Viele Palästinensische Flüchtlinge.

Was passiert, wenn die UN den Palästinensern den Status als Beobachterstaat anerkennt?

Was passiert, wenn Israel seine Drohungen dann wahr macht und die Siedlungen annektiert? Es wäre nicht die erste Drohung, die Israel wahr macht.

Was passiert dann mit dem restlichen Westjordanland? Es wird geographisch nicht mehr staatsfähig sein.

Reste der Westbank, ein Staat Jordanien, der in Stammesdispute zerfällt, viele Palästinenser westlich und östlich des Jordans, zusammengehalten durch ein Nationalgefühl und den Wunsch nach einem Staat.

Und dann sind da noch Gaza, regiert von der Hamas und Ägypten, regiert von den Muslimbrüdern. Israel wird kein Interesse haben, Gaza in sein Staatsgebiet einzugliedern.

Und was wird in Syrien passieren? Immer mehr gewinnt der Eindruck, es handelt sich nicht mehr um einen Aufstand für Demokratie, sondern um ein Schlachtfeld von Konfessionen. Die Machtbalance der Region wird dort ausgetragen.

Es sind Gedankenspiele. Vieles scheint unwahrscheinlich. Aber wie hoch hielten wir vor drei Jahren die Wahrscheinlichkeit, dass der Nahe Osten von Demokratiebewegungen und Aufständen gegen die scheinbar so stabilen Regime erschüttert wird? Wer denkt heute schon daran, dass die Geographie im Nahen Osten in drei Jahren völlig anders aussehen könnte als heute? Es sind Gedankenspiele.