7. November 2022

Gerechtigkeit durch Strafe?

07.11.2022 — Berlin, Deutschland

Kann Strafrecht schweres Unrecht aufarbeiten — gerade auch dann, wenn es immer noch andauert? Ab welchem Zeitpunkt kann Strafrecht helfen, dieses Unrecht zu beenden und nach welchen Maßstäben wird es angewandt? Um diese und weitere Fragen drehte sich das diesjährige Septemberkolloquium.

Das nefia-Septemberwochenende 2022 stand unter dem Titel “Alles Verhandlungssache?”. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg stellt sich diese Frage mit neuer Dringlichkeit. Das traditionelle Kolloquium des Netzwerks, bei dem aktuelle außenpolitische Fragestellungen sowie Fragen zur internationalen Personalpolitik behandelt werden, fragte sich konkret: „Aufarbeiten von Konflikten – (wie) kann Strafrecht Gerechtigkeit schaffen?“

Das Kolloquium fand, wie das ganze Wochenende, das erste Mal seit 2019 wieder in Präsenz statt. Im Dock10 in Berlin-Lichtenberg fanden sich über 100 aktuelle Kollegiat*innen und Alumni*ae des Mercator Kollegs und des früheren Stiftungskollegs für internationale Aufgaben zusammen. Unter der Moderation von Fin-Jasper Langmack (Jahrgang 2019/20) gestaltete sich eine angeregte Diskussion, ein spannender Austausch und nach langer Zeit der Online-Meetings endlich wieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit in einem geschützten Raum. Für das Netzwerk für internationale Aufgaben ein wahrer Segen.

Foto: Santiago Tascon

Andere Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit

Das Panel fand unter Chatham-House Rules statt und diskutierte zwei Fragen: Wie variieren die Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit weltweit und wie könnten Alternativen der Konflikttransformation und -aufarbeitung aussehen?

Die Diskussion startete mit einem Blick auf verschiedene Strafzwecktheorien, die ganz unterschiedlich auf die Frage eingehen, welches Strafrechtsystem und welcher Rechtsrahmen auf welche Situation Anwendung finden sollte. Dabei wurde erörtert, wann das Aufzwingen von (insbesondere westlichen) Wertsystemen ins Leere laufen kann oder sogar Konflikte verschärft. Im Zentrum der Debatte stand der Aspekt, dass Vorstellungen in unterschiedlichen nationalen oder regionalen Kontexten mit internationalen Normen kollidieren können. Kritisiert wurde die häufig koloniale Konstellation von Strafverfolgung durch den globalen Norden von Menschen des globalen Südens.

Dass (Völker-)Strafrecht an seine Grenzen kommen kann, ist unter Fachkundigen bekannt. Welche Alternativen existieren aber? An unterschiedlichen Beispielen wurde verdeutlicht, welche Probleme entstehen, wenn die einzige funktionierende Strafjustiz von nicht-staatlichen Akteuren bereitgestellt wird — zumal diese Richter und Täter zugleich sein können. Zur Sprache kamen auch gesellschaftliche Traditionen. Beispielsweise kann der Wert der Vergebung in einigen Kontexten eine viel zentralere Rolle in dem Leben der Opfer spielen als eine im Nachhinein erlangte “Gerechtigkeit”. Der Konsens: Die Institutionen der internationalen Gemeinschaft scheitern regelmäßig daran, strafrechtliche Interventionen kontextualisiert zu denken.

Die Frage des Weltrechtsprinzips

Als sich die Diskussion öffnete, kamen weitere Fragen auf: Inwieweit kann Amnestie ein probates Mittel der Aufarbeitung sein? Wie ist umzugehen mit der Unzuständigkeit internationaler Strafgerichte? Wie ist das sogenannte Weltrechtsprinzip im deutschen Strafgesetz zu werten? Geriert sich Deutschland als weltweiter Richter oder ist es gut, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen juristisch verfolgt werden, wenn auch kaum systemisches Unrecht als solches in den Blick genommen wird und häufig eher niederrangige Täter*innen belangt werden?

Gegen Ende der Diskussion ging es an die essentiellen Fragen rund um die Themen Strafrecht und Gerechtigkeit.  So wurde darüber nachgedacht, ob das Strafrecht an sich denn überhaupt ausreiche, um Gerechtigkeit (wieder-)herzustellen. Und was Gerechtigkeit überhaupt heißt, angesichts schweren systematischen Unrechts.

Zurück in der Realität

Dem positiven Echo der Veranstaltung zu Folge und den sich anschließenden angeregten weiterführenden Diskussionen bei Speis und Trank nach zu urteilen, weckte das Thema großes Interesse. Es war ein vielversprechender Start aus der pandemiebedingten Pause — zurück zur oft auch bitteren Realität, in der heutzutage vielleicht noch viel mehr als zuvor über politische und gesellschaftliche Themen diskutiert werden muss als noch vor ein paar Jahren.

Wir sind gespannt, was die Zukunft bringen wird und schauen voller Dankbarkeit auf unser Netzwerk und die Mitglieder, welche sich mit außerordentlichem Engagement und nicht endender Motivation dafür einsetzen, dass die Welt eine bessere wird.

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