„Wenn hier Panik ausbricht, stelle ich mir das grimmig vor“
Wie ergeht es einem Schweizer, der in Kenia gestrandet ist? Und wer wird in der Krise mit staatlicher Hilfe zurückgeflogen, wer nicht, und warum?
15. Mai 2020
15.05.2020 — Berlin, Deutschland
Geflüchtete Kinder in Griechenland sind der Pandemie besonders schutzlos ausgesetzt. Alumna Caroline Schmidt sprach für die ad hoc mit Domniki Georgopoulou über ihre Arbeit für SolidarityNow vor Ort.
Domniki Georgopoulou: SolidarityNow unterstützt sozial benachteiligte Griechen sowie Migranten und Geflüchtete. Nach der Gründung 2013 versuchten wir primär, die negativen Auswirkungen der Finanzkrise von 2010 abzufedern. Heute konzentrieren wir uns auf die Nachwehen der humanitären Krise von 2015.
Für Migranten, Asylbewerber und Geflüchtete bieten wir psychosoziale Unterstützung, Kinderschutz, Rechtsberatung und -vertretung. Ausserdem helfen wir beim Einstieg in den Arbeitsmarkt und bei der Suche nach einer Unterkunft. Unser nicht-formales Bildungsangebot spielt für die Integration in die griechische Gesellschaft eine große Rolle.
Ich bin für die Bildungsprojekte im Norden von Griechenland zuständig. Diese beinhalten drei Einrichtungen in Thessaloniki und sechs in Flüchtlingscamps. In den Lagern haben wir Programme zur Förderung des Kinderschutzes und bieten ausserschulische Bildung an. UNICEF ist unser technischer und finanzieller Hauptpartner in dieser Arbeit. Außerdem leite ich die regionale Arbeitsgruppe Bildung, in der staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure zusammenkommen, um die Bildungsangebote für Geflüchtete zu koordinieren.
Georgopoulou: Vor der Pandemie konnten wir unsere Programme relativ reibungslos umsetzen, auch im Bildungsbereich. Es ist fair zu sagen, dass das griechische Bildungsministerium vergleichsweise schnell und effektiv auf die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 reagiert hat.
Nach dem Regierungswechsel im Juli 2019 kam es jedoch in einigen Bereichen zu einschneidenden Veränderungen. Die neue Regierung hob zum Beispiel sofort den Zugang von Asylbewerbern zur Gesundheitsversorgung auf — außer in akuten Notfällen. Bis heute gibt es keine angemessene Regelung.
Im Bildungssektor läuft das zum Glück etwas besser. Geflüchtete Kinder und Jugendliche haben in Griechenland offiziell ein Recht auf Bildung. Das Recht wird auch anerkannt, wenn ihre Unterlagen nicht vollständig sind oder ihr Status nicht abschließend geklärt ist. Innerhalb von drei Monaten nach ihrer Ankunft können sie sich in die Schule einschreiben und an einem speziellen Sprachtraining teilnehmen.
Dem Unterricht auf Griechisch zu folgen ist natürlich eine enorme Herausforderung. Es gibt Eltern, die ihre Kinder nicht einschulen, weil sie nicht in Griechenland bleiben wollen. Wir erleben auch strukturelle Probleme, da in einigen Regionen nicht genügend Schulen oder Klassenzimmer zur Verfügung stehen, um die geflüchteten Kinder und Jugendlichen aufzunehmen. Zum Teil dauern die Schulanmeldungen sehr lange.
Auf den Ägäischen Inseln gibt es aber weitaus größere Probleme. Aufgrund der chaotischen Situation dort konnten weder wir noch unsere Partner bisher Bildungsprogramme in diesen Lagern anbieten. Das ist auch nicht unsere Priorität, da wir uns dafür einsetzten, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit aufzuheben und die Menschen, die auf den Inseln ankommen auch auf dem Festland unterzubringen.
Einige griechische Eltern haben gedroht, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen, falls dies umgesetzt würde. Mir scheint es, dass die Regierung grundlegende Dienstleistungen wie Bildung nicht bereitstellen will, um Menschen auf der Flucht davon abzuhalten, nach Griechenland zu kommen.
Die Spannungen an der türkisch-griechischen Grenze im Februar und März verschlimmerten die Lage dramatisch. Die griechische Regierung und die Medien instrumentalisierten den Konflikt. Sie sprachen von einer Bedrohung der territorialen Integrität Griechenlands durch Migranten und Geflüchtete und befeuerten so die öffentliche Feindseligkeit gegenüber diesen Menschen und denen, die ihnen helfen.
Für den gesamten Monat März wurde das Recht, Asyl zu beantragen ausgesetzt. Eine beispiellose Maßnahme, die die Situation verschärft: Wenn neue Anträge nicht registriert werden, bleibt der Aufenthalt der betroffenen Personen ungeklärt. Abgesehen davon wurde das ohnehin langsame System zusätzlich belastet. Um politische Härte zu zeigen, wurden Neuankommende in zwei geschlossenen Lagern (Kleidi und Malakasa II) mit inakzeptablen Bedingungen untergebracht — Zelte, Außenduschen, kein Zugang zu Bildung.
Georgopoulou: Diese Krise hat unsere Arbeit verändert. Wegen der Bewegungseinschränkungen können nur noch wenige unserer Leute die Flüchtlingscamps besuchen, primär für Notfälle, insbesondere von Kindern und Frauen. Weil die meisten öffentlichen Dienste zu sind, können diese aber oft nicht schnell genug behandelt werden.
Familienzusammenführungen wurden ausgesetzt. Für zwei Flüchtlingscamps, die vollständig gesperrt wurden, haben wir für Mädchen und Frauen Online-Communities (eine Facebook-Gruppe pro Camp) eingerichtet, um dem erwarteten Anstieg sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu begegnen.
Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit COVID-19 ist, dass wir keine klaren Regeln haben bezüglich der Unterbringung und Betreuung von infizierten unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sowie Kindern, deren Eltern ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Wir haben das bei den zuständigen Behörden angesprochen, aber die Mühlen mahlen langsam.
Wegen COVID-19 sind bestehende Betreuungsmöglichkeiten nun ungeeignet. Für die über 5,000 unbegleiteten Kinder in ganz Griechenland gibt es nur für jedes fünfte eine geeignete Unterbringung. Zum Teil sitzen sie im Gefängnis oder leben auf der Straße. Auch das Vormundschaftsprogramm für diese Kinder endete Anfang des Jahres — bisher ersatzlos.
Georgopoulou: Auch die Bildungsarbeit ist erheblich beeinträchtigt. Aber wir nutzen verschiedene Möglichkeiten, um Kindern auch jetzt das Lernen zu ermöglichen. Wir verteilen jede Woche Lernmaterialien, stellen Online-Kurse für Lernende in den städtischen Treffpunkten bereit; unterhalten einen Podcast mit Informationen über die aktuelle Situation in mehreren Sprachen und einen weiteren, der Kinder beim Lernen unterstützt, sowie zwei Online-Blogspots für Kinder in Camps, in denen wir die Lernmaterialien nicht ausgeben können.
Mit den Lernmaterialien haben wir gute Erfahrungen gemacht. Wir haben ausgefüllte Arbeitsblätter, Zeichnungen, Geschichten und Dankesbriefe für die Lehrer erhalten. Die Kinder merken, dass sich ihre Lehrer um sie kümmern. Aber Kinder und Jugendliche in den Camps haben Schwierigkeiten, an unseren Online-Angeboten teilzunehmen.
Georgopoulou: Eindeutig. Für geflüchtete Kinder und Jugendliche in den Städten sind Online-Lösungen effektiv. Kinder, die bereits am Unterricht in griechischen Schulen teilnehmen, können größtenteils an den Online-Klassen ihrer Schule teilnehmen. In den Camps sind Online-Angebote schwerer abzurufen.
Dies auch weil sich die Lager oft in Gebieten befinden, wo die Anbindung generell schlecht ist. Organisationen, die die Camps managen, ist es zum Teil zu teuer und aufwendig, Internet zu verlegen. Geflüchtete Familien haben zudem oft nur ein einziges internetfähiges Gerät. Smartphones und Tablets sind meist für Telefonate und News reserviert. Hier müssen wir andere Lernangebote finden, um zu verhindern, dass geflüchtete Kinder den Anschluss verlieren.
Georgopoulou: Griechenland wurde 2015/2016 von der internationalen Gemeinschaft für seine “gelebte Solidarität” gelobt. Heute wird die Migration in der Öffentlichkeit sehr negativ dargestellt.
Das beeinflusst unsere Arbeit. Vor allem Inselbewohner machen ihrer wachsenden Krisenmüdigkeit Luft. Mainstream-Medien und Politiker beziehen sich nicht mehr auf Geflüchtete oder Asylsuchende, sondern auf „Migranten“ oder „illegale Migranten“ und schüren damit Ablehnung.
Die Sperrung von vier Flüchtlingslagern (Ritsona, Malakasa, Koutsochero, Volos) und einem Hotel (Galaxy Hotel in Kranidi) wegen COVID-19 hat diese negative Presse weiter befeuert.
Tatsächlich sind aber die fehlenden humanitären Standards das Problem. Die Geflüchteten haben Angst vor der Ausbreitung von COVID-19. Soziale Distanzierung oder regelmäßiges Händewaschen sind nicht möglich. Die Wartezeit, um die Waschräume in den Aufnahmezentren zu nutzen, liegt bei knapp zwei Stunden.
Die Asylpolitik der Regierung geht in Richtung von geschlossenen Lagern, Bewegungsverboten und beschränktem Zugang zur Grundversorgung. Als griechische Staatsbürgerin und humanitäre Helferin befürchte ich, dass die Regierung wegen den Spannungen mit der Türkei und COVID-19 öffentlichen Zuspruch für diese Stossrichtung erhält. Die Entscheidung, Asylverfahren auszusetzen, war meines Erachtens ein Wendepunkt für unser Asylsystem — weg vom internationalen Flüchtlingsschutz.
Die Aufnahme von unbegleiteten Kindern durch Luxemburg und Deutschland ist ermutigend. Ich hoffe, dass mehr Minderjährige in anderen EU Staaten untergebracht und unterstützt werden, ohne ihre Interessen oder ihr Wohl in diesem komplexen Verfahren zu verletzen.
Generell müssen viel mehr Menschen von den Inseln auf das Festland gebracht werden, um sie vor der akuten Bedrohung durch das Virus zu schützen und um der zunehmenden psychischen Belastung der Menschen in den überfüllten Lagern zu entgegnen.
Griechenland muss Lösungen für sein Asyl- und Schutzsystem finden, die internationalen Standards entsprechen. Auch die Aufnahmezentren auf den Ägäischen Inseln müssen von Grund auf umgestaltet werden. Solange Konflikte und Gewalt in Syrien, Afghanistan und anderswo andauern, werden auch Menschen fliehen. Sie zu bestrafen, indem wir sie in geschlossene Lager stecken und keine sozialen Dienste anbieten, ist nicht akzeptabel.
Hier diskutieren Fachleute ihre Erfahrung aus der Praxis. Alle drei Monate erscheint ein thematischer Blog zu einer drängenden Frage der internationalen Arbeit.