8. Juli 2016

Hilfe! Xeurophobie – die Ergebnisse unserer nefia-Umfrage

Xeurophobie, unser Neologismus und Namensgeber der nefia- Umfrage, steht für die „Furcht vor dem Fremden/Europa/ dem Anderen als Gegensatz zu der Begeisterung für eine gemeinsame europäische und kosmopolitische Idee“.

In unserer Umfrage fragten wir nach eben diesem Gegensatz. Über das nefia-Netzwerk hinaus streuten wir den englischsprachigen Fragebogen über soziale Netzwerke quer durch Europa. Insgesamt erhielten wir 168 auswertbare Antworten zu Fragen in den Themenblöcken Europa, Xenophobie und Diskriminierung, Zukunftsvision und Lösungsvorschläge für Europa. Die Ant- worten zeigen: Die Sorge um Europa ist groß, aber es gibt auch ein ausgeprägt europäisches Selbstverständnis, das gekoppelt mit pro-europäischen Initiativen und Engagement gegen Frem- denfeindlichkeit und Diskriminierung Hoffnung gibt.

Die Idee zur Umfrage kam mir schon vor einiger Zeit, als der Front National in Frankreich und in Deutschland die Alterna- tive für Deutschland (AfD) an Stimmen gewannen. Die Gesellschaft ist zunehmend polarisiert: Die Eliten führen Diskurse, die zwar faktisch korrekt sind, aber die Ängste eines Teils der Bevölkerung ignorieren. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich besser vertreten durch populistische Gruppierungen, deren emotional aufgeladene Argumente keiner faktischen Basis mehr bedürfen. Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich im US-amerikanischen Wahlkampf ab. Gerade deshalb sprechen wir in der Umfrage Hilfe! Xeurophobie auch die Emotionen an, die zur Zeit mit der EU und mit Europa verbunden werden. Der Umfrage liegt bewusst ein Europabegriff zugrunde, der größer ist als die EU- Mitgliedstaaten und die europäische Werte- und Schicksalsgemeinschaft umfasst. Frieden, Kultur, Freiheit, Menschenrechte und Geschichte sind die meist genannten Antworten zur Frage nach einer persönlichen Definition Europas.

Sebastian schreibt: „Ich bin im kommunistischen Ostdeutschland aufgewachsen. Wie der Fall des Eisernen Vorhangs, kann ich mich vor allem mit ‚Europa‘ als ‚Projekt‘ identifizieren, das für Freiheit im Allgemeinen steht, aber auch die Ausweitung meiner persönlichen Freiheit bedeutet und die Chance, dass mehr und mehr Menschen dieselben zivilen Freiheiten und Men- schenrechte genießen oder für sich beanspruchen können.” Iason aus Griechenland beschreibt Europa als „eine Gruppe zivilisierter Länder mit kulturellen Unterschieden, wirtschaftli- chen Ungleichheiten und einer langen Geschichte von Konflikt, das in letzter Zeit eine friedliche, aber fragile Ära durchlebt.“ Charlotte, ebenfalls aus Griechenland, schreibt, für sie sei Europa schlicht: „Mein Heimatland.“ Jon aus Spanien schreibt: „Europa bedeutet Geschichte und Entwicklung. Es bedeutet Kreativität und es ist ein sicherer Ort für Denker.“
Die Umfrageteilnehmer reflektieren stark unsere eigenen Netzwerke – dadurch und durch ihr rein englischsprachiges Design und die exklusive Zirkulation online ist sie weder repräsentativ noch wissenschaftlich – sondern ein erster Schritt, um Hoff- nung zu mobilisieren sowie Ideen und Projekte zu sammeln. 90 der 168 Umfrageteilnehmer sind Deutsche (ein Drittel von ihnen lebt nicht in Deutschland), die zweitgrößte Gruppe sind Franzosen (22), gefolgt von neun Italienern. 93 Prozent der Umfra- geteilnehmer sind zwischen 20 und 40 Jahren alt. Eine überwie- gende Mehrheit sieht sich als europäisch: 154 der 168 Befrag- ten. Unter den „anderen“ Antworten fanden wir sehr interessante Ansichten, so antwortete etwa Max aus Deutschland, er fühle sich „eher europäisch als deutsch. Eher menschlich und individuell als europäisch“, und Britta aus Nordamerika schreibt: „Ich hoffe, europäisch zu werden.”

Von Furcht bis Optimismus:Gemischte Gefühle über Europas Zukunft.

Das Bild ist deutlich durchwachsener in der Sicht auf die Zukunft Europas. Die Ereignisse der vergangenen Monate, ins- besondere das Referendum im Vereinigten Königreich, das Attentat von Nizza und schließlich der gescheiterte Putsch in der Türkei, spiegeln sich deutlich in immer negativeren Ant- worten bis zur Schließung der Umfrage am 23. Juli wider. Sarah aus Deutschland schreibt: „Ich bin von Natur aus Opti- mist und will optimistisch sein, aber was um mich herum pas- siert, macht mir Angst – es gibt so viele Menschen, die das europäische Projekt nicht unterstützen oder nicht verstehen, so viele Herausforderungen, ein Rechtsruck in vielen Parlamenten der Mitgliedsstaaten sowie im europäischem Parlament.“ Marie aus Frankreich findet: „Ich hätte gern, dass Europa föderal- staatlicher und demokratischer wird, aber bin mir nicht sicher, ob wir auf dem richtigen Weg sind.“ Das starke Europa-Bewusst- sein auf der einen Seite und die Sorge um dieses einzigartige Projekt drückt sich auch in Jules’ Worten aus: „Ich bin opti- mistisch bezüglich der Schönheit und des Potenzials Europas, aber ängstlich, ob wir Europas Schönheit rechtzeitig genug wertschätzen, um ihre Zerstörung zu verhindern.“

Es scheint oft, als würden diejenigen, die einem freiheitlichen Lebensstil mit Gewalt drohen, und Rechtspopulisten, die die Gefahr im Fremden suchen, miteinander eine gefährliche Partie eskalierenden Pingpongs spielen. 2006 sagte Jürgen Habermas in einer Rede: „Bei uns in Europa ist die Durchsetzung der Ver- fassungsnormen eine so unbestrittene Prämisse des Zusammen- lebens, dass der hysterische Aufruf zur Verteidigung unserer ‚Werte‘ als die semantische Aufrüstung gegen einen unbestimmten inneren Feind scheint. Die Bestrafung von Gewalt und die Bekämpfung von Hass verlangt ruhiges Selbstbewusstsein, aber keine Scharfmacherei.“ Und vielleicht eine gute Prise hartnäcki- gen Optimismus. Zaheer aus Usbekistan schreibt zu dem Spannungsverhältnis: „Die Zukunft Europas hängt vom gegenseitigen Verstehen von Europäern und Ausländern ab; solange es Verständnis und Respekt füreinander gibt, können wir optimistisch sein.“Leslie aus Schottland kommentiert über den Fragebogen hinaus: „Ich fühle auch ein dringendes Bedürfnis, in Bildungs- maßnahmen einige der moralischen Verantwortungen und Pflich- ten zu betonen, die wir innerhalb der EU haben und gegenüber anderen Teilen der Welt, die sich weniger glücklich schätzen können als wir“. Abschließendschreibter:„Ich hoffe sehr,dass,obwohl Großbritannien die EU verlässt, ein unabhängiges Schottland seinen Platz in der EU einnehmen und weiterhin mit anderen Nationen und Menschen ähnlichen Geistes arbeiten wird.“ 

Xenophobie: Wie gehen wir dagegen vor?
Die Mehrheit der Umfrageteilnehmer hat sich selbst für einen oder mehrere der genannten Gründe (Liste in oben stehender Grafik) diskriminiert gefühlt. 94 Prozent haben Diskriminie- rung und/oder Xenophobie in ihrem eigenen Umfeld oder in den Medien wahrgenommen. Lösungsansätze, um Diskriminie- rung und Fremdenfeindlichkeit zu begegnen, werden vor allem in der Bildung gesehen, vom frühkindlichen Alter an. Prominent genannt werden auch Austauschprogramme für junge Men- schen und Erwachsene nicht nur innerhalb Europas, Zivilcou- rage im ernsthaften und respektvollen Dialog, Infrastruktur und bezahlbarer Wohnraum, die Segregation vorbeugen sowie die Unterstützung lokaler Initiativen. Jonathan aus Großbritannien sieht die Lösung vor allem in „einer Rückkehr zur Fokussierung auf die sozio-ökonomische Ungleichheit und den Mangel an Chancengleichheit als die Hauptursache rechtsgerichteter poli- tischer Parteien, die Außenseiter zum Sündenbock machen.“ Er ruft dazu auf, bestimmte Gruppen – wie politische Eliten und Unternehmen – die diese Probleme vernachlässigen, zur Verant- wortung zu ziehen. Diese Sichtweise teilt auch Inigo aus Spanien, der meint, dass alle Achsen von Diskriminierung (Geschlecht, Rasse, sexuelle Orientierung, sozio-ökonomischer Status, etc.) offensichtlich und überall sichtbar sind: „Fremdenfeindlichkeit ist besonders weit verbreitet, aber ich sehe sie meist gekoppelt an den sozio-ökonomischem Status.“
Anna aus der Schweiz schreibt: „Ich denke, es ist wichtig, Men- schen zu konfrontieren. Viele denken, ‚es gibt nichts, was man machen kann‘ oder ‚du kannst ihre Meinung nicht ändern‘.“ Nach den jüngsten Terroranschlägen steigt offenbar die Frem- denfeindlichkeit gegen muslimische Menschen. Aber es ist wich- tig, sich in diesen Gesprächen zu engagieren, wenn wir ihnen begegnen.OftfindensieaußerhalbunserersozialenKreisestatt, sodass es schwierig ist, diese Ansichten in Frage zu stellen. „Viele Menschen haben noch nie einen Flüchtling gesehen. Reale Begegnungen können ihnen helfen, ihre Vorurteile zu überwinden“, so Anna.
Die Umfrage gibt Hoffnung auf ein aufgeschlossenes, offenes, inklusives und lernbereites Europa. Auf die Aufforderung, eine Person oder ein Projekt zu nennen, dass die europäische Idee voranbringt, schreibt Stéphanie aus Frankreich: „Jeder, den ich kenne. Sie alle haben zwei, drei oder mehr Heimatländer. Wie spitze ist das?“ Zu einer gelingenden Integration beschreibt Habermas in der zuvor zitierten Rede eine Lektion, die immer dieselbe bleibe: „Keine Integration ohne die Erweiterung des eigenen Horizonts, ohne die Bereitschaft, ein breiteres Spekt- rum von Gerüchen und Gedanken, auch von schmerzlichen Dissonanzen zu ertragen.“ Djamila aus Deutschland schreibt: „Aufgeschlossene Menschen treiben die europäische Idee voran. Menschen, die eine andere Meinung als die eigene akzeptieren.“
Vielleicht stehen gerade wir, die 20- bis 40-Jährigen, die „Generation Erasmus“, die die einzigartige europäische Freiheit von jung auf ganz selbstverständlich gelebt haben, besonders in der Pflicht, nun aktiv für sie einzustehen. Europa war und bleibt ein eingartiges Friedensprojekt. Es scheint, als sei der Moment gekommen, von der bisherigen Selbstverständlichkeit in eine aktive Phase überzugehen. Darin müssen wir es schaffen, uns über Bildungsgrade und Grenzen hinweg zusammen weiter, bun- ter und vielfältiger zu entwickeln und ein inklusives Zuhause für alte und neue Europäer aufzubauen. Ein möglicher Schritt dieses Projekts des Crowdsourcing hoffnungsvoller Ideen und Initiativen wäre, die Fragen unserer Umfrage auch an Geflüch- tete in Europa zu stellen, und von ihnen und mit ihnen über Europa und gemeinsames Wachsen zu lernen.