2. Juni 2017

Interview: „Sobald die Unter-18-Jährigen an Bord des Demokratiedampfers sind, werden sie den Kurs des ganzen Landes kräftig mitbestimmen“

In Deutschland und der Schweiz fordern Kinderrechtsorga- nisationendasStimmrechtsalterNull.„Esisteindemokratischer Unsinn, ausgerechnet Kinder vom Stimm- und Wahlrecht aus- zuschließen, die am längsten mit politischen Entscheidungen leben müssen“, argumentiert Thomas Handschin.

Das Anliegen polarisiert. Die Kinderlobby Schweiz und der Deutsche Familienverband fordern, dass Kinder ab der Geburt ein Stimm- und Wahlrecht haben. Ein im Jahr 2008 eingereichter Vorstoß wurde vom Schweizer Parlament nie behandelt. Der Bundesrat hatte argumentiert, das Anliegen wäre rechtlich und praktisch fast unmöglich umzusetzen. Thomas Handschin erklärt, weshalb er sich weiterhin für das Stimmrechtsalter Null einsetzt.

Politische Bedürfnisse stellen sich nicht erst mit dem 18. Lebensjahr ein. Bild: Harald Rinaldi

ad hoc: Herr Handschin, Sie fordern, dass Babys abstimmen und wählen dürfen. „Unsinn“, sagen Ihre Gegner*innen.

Handschin: Politische Entscheidungen haben normalerweise kein Verfallsdatum. Somit sind es die jüngsten Menschen, die am längsten damit leben müssen. Es ist daher ein demokrati- scher Widerspruch, ausgerechnet sie vom Stimm- und Wahl- recht auszuschließen. Niemand erwartet, dass ein kleines Kind seinen Stimmzettel selbst ausfüllt. Das werden die Eltern stell- vertretend übernehmen – mit der gleichen Selbstverständlich- keit, wie sie ihre Kleinen bekochen, bekleiden und einschulen.

ad hoc: Wie stellen Sie sich das Stimmrechtsalter Null konkret vor?

Handschin:SobaldeinKindzurWeltkommt,erhältessämtliche Wahl- und Abstimmungsunterlagen, genau wie seine Eltern. Diese dürfen für ihre Kinder treuhänderisch so lange stimmen und wählen, bis das größer gewordene Kind seine Zettel selber ausfüllen will. Ob das Kind dann acht, 13 oder 17 Jahre alt ist, spielt keine Rolle. Dieser Übergang ist nicht an eine behördliche Registrierung gebunden; vielmehr handelt es sich dabei um eine familieninterne Angelegenheit. Der Verzicht auf ein Minimal- alter verhindert, dass ein Kind unter 18 Jahren zu einem Ab- stimmungsthema zwar eine Meinung hat, diese aber nicht in die politische Waagschale werfen darf. Stimmrechtsalter Null macht Schluss mit dieser Ungerechtigkeit. Die derart erweiterte Demokratie erfüllt dann endlich die alte demokratische Forde- rung „ein Mensch – eine Stimme“.

ad hoc: Ist das Risiko nicht groß, dass Eltern das Stimmrecht ihrer Kinder missbrauchen?

Handschin: Von Missbrauch bei Abstimmungen müsste man sprechen, wenn die Stimme der Eltern die Interessen ihrer Kinder verletzt. Ein solches Verhalten stünde im Widerspruch zum viel natürlicheren Bestreben der Eltern, für ihre Kinder nur das Beste zu wollen. Natürlich kontrolliert niemand die Loyalität der Eltern bei Wahlen und Abstimmungen. Insofern könnte Missbrauch auch nicht verhindert bzw. geahndet werden. Praktisch betrachtet dürften sich die Missbräuche allerdings im Promillebereich bewegen. Die Furcht davor kann kein ernsthaftes Argument gegen das Kinderstimm- und Wahl- recht sein. Vielmehr ist es missbräuchlich, die Kinder von der demokratischen Mitwirkung auszuschließen.