17. März 2012

Karussell International

Karussell International

Sie redet von Zügen, auf die man aufspringen müsste. Sonst sei es zu spät, sagt sie. Ihr Gesicht hat eine fremde Ernsthaftigkeit. Jetzt oder nie. Wir seien in dem Alter, in dem wir die richtigen Entscheidungen treffen müssten. Ansonsten würden wir mit 40 aufwachen, und merken, dass wir unsere Karriere verpasst haben.

Es entsteht der Eindruck sie versuche nicht auf den Zug aufzuspringen. Es hört sich an als würde sie der Zug überfahren, wenn sie nicht schneller liefe. Immer schneller. ‚Lass uns mehr networken‘, sagt sie. Die richtigen Leute kennen. Das ist ‚Key‘. Flexibel müssten wir sein. Schnell und unabhängig. Sonst wird das nichts mit dem internationalen Beruf. Sonst ist er weg. Der Zug.

Vielleicht ist diese stille Panik ein Komplex dieser ganzen privilegierten Generation. Vielleicht zum ersten Mal steht uns die Welt in diesem Ausmaß offen. Und jetzt wollen wir bitte schön auch hoch hinaus. Erleben wollen wir sie und ja nichts verpassen.

Zwischen den Zeilen

15 Städte, 4 Kontinente, 7-mal umziehen, 4 Praktika. In 3 Jahren. Sauber formatierte Linien auf meinem Lebenslauf.  Was steht zwischen den Zeilen?  Die ein oder andere gescheiterte Beziehung? Einige verlorene Freunde? Ein bröckelndes Heimatgefühl vielleicht?  Selbst schuld! Wenn man einen internationalen Beruf will, dann soll man auch nicht in Selbstmitleid versinken.

Wenn Journalisten die Mitte Zwanziger beschreiben, benutzen sie häufig Wörter wie ‚orientierungslos‘, zukunftsgetrieben’, optimierungswütig‘. Im Grunde seien wir alle süchtig nach dem nächst spannenderen Erlebnis, sagen sie. Sind wir Abhängige?

Ich muss an meinen Vater denken. Er neigt zum Weisheits-Kitsch. „Ein weiser Indianerhäuptling wird von einem seiner Kämpfer gefragt: ‚Warum bist du so mächtig?‘ Der Häuptling antwortet: ‚Das ist ganz einfach: Wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich stehe, dann stehe ich, und wenn ich laufe, dann laufe ich‘. Was machst du?“, fragt er mich.

Vielleicht sollten wir wirklich ab und zu mal stehen bleiben und reflektieren. Der gefährdetste Süchtige ist jener, der denkt, er sei keiner.

Entscheidungsdilemma

Unsere Sofort-Generation macht alles gleichzeitig. In jedem Moment kann mir mein Handy alles sagen, was ich wissen will. Schlimmer noch: Was ich wissen sollte. Es wird schwieriger, Entscheidungen zu treffen, weil  wir über mehr Informationen verfügen. Entscheidungen treffen grenzt fast an Ignoranz, da wir ja annehmen müssten, wir hätten alle relevanten Informationen zur Verfügung gehabt. Alles nur einen Tastendruck entfernt.

Viele meiner Generation sprechen mehrere Sprachen. Ich habe mal nachgeschaut. Mit English, Spanisch, Deutsch und Französisch kann man sich mit ca. 2475 Millionen Menschen auf der Welt unterhalten, also mit ca. einem Drittel der Erdbevölkerung. Theoretisch könnte man in über 100 Ländern leben und arbeiten.  Rein rational ist also die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass irgendwo anders interessantere Freunde, schönere Partner, klügere Chefs und besser bezahlte Jobs auf einen warten. In einer globalisierten Welt gibt es nicht nur mehr Möglichkeiten, sondern auch einen höheren Druck, diese wahrzunehmen.

Wenn alles möglich erscheint, wenn jeder (fast) alles sein darf, wird es schwieriger, sich über das Erreichte zu freuen. Man ärgert sich über all die anderen Sachen, die man nicht erlebt hat. Solange man es sich finanziell leisten kann, wachsen die Möglichkeiten zur Selbstentfaltung ins Unendliche.  

Entscheidungen treffen ist aber nicht nur schwieriger, weil wir mehr Entscheidungen treffen können, sondern weil wir müssen. Die Welt ist nicht nur unübersichtlicher, sondern auch unmittelbarer für jeden Einzelnen geworden. In Japan gibt es einen Tsunami, in Deutschland werden die Atomkraftwerke abgestellt. In Texas kaufen arme Menschen teure Häuser. In Deutschland werden Arbeiter gefeuert. Wer blickt da noch durch.

Fazit: Wir haben es heute schwerer Entscheidungen zu treffen. Wir haben mir Informationen, mehr Möglichkeiten und einen höheren Druck uns auch entscheiden zu müssen.

Früher war alles leichter?

Jede Generation sieht sich wohl als Ausnahme. Das ist die Arroganz des Einzelkindes. Dennoch sind wir vielleicht die ersten, die Globalisierung in einem solchen Ausmaß miterleben. Kommunikations- und Transportinnovationen machen die Weite erreichbar.

Zusätzlich haben unsere Eltern uns in Deutschland nicht viel ideologischen Restbestand übrig gelassen. Regionalbahnhöfe? Schummelnde Präsidenten? Föderalismusreform? Ein Jahr früher oder später Rente? Die wirklich wichtigen Themen, so scheint es, liegen da draußen.

Gleichzeitig ist es schwieriger, globaler Bürger zu sein, wenn der Arbeitsmarkt der Zukunft eben nicht mehr so rosig aussieht wie in den 60ern. Die EU rechnet mir vor, dass ich, wenn ich 40 Jahre alt bin,  zwei Pensionäre finanzieren werde. Das demographische Horrorszenario und der schrumpfende Sozialstaat nagen an den Kinderwünschen. Wer die Welt ein bisschen besser machen will, sollte also gleichzeitig schnell Karriere machen, sonst wird es zu teuer.

Der globale Arbeitsplatz hat zwei weitere Besonderheiten: Erstens gibt es exponentiell mehr Konkurrenten und zweitens besteht ein größerer Legitimationszwang. Warum soll gerade ich Steuergelder verdienen, um irgendwo in der Welt etwas zu tun, was die Leute, die dort wohnen, angeblich selbst nicht können. Vielleicht – so die Skeptiker – ist der Nutzen einer steuerpflichtigen Anstellung in meinem Heimatdorf im Endeffekt größer als die Früchte heroischer Ambitionen es je sein werden?

Fazit: Wenn man etwas bewegen will, dann global, finanziell abgesichert, sinnvoll, gerechtfertigt, besser und schneller als die anderen.

Puh!

Was tun?

Luftholen!

Entschleunigen!

Mal Mut haben, irrational zu sein. Häufiger schlechte Filme gucken, nutzlose Hobbies ausprobieren, zu viele Aprikosen essen. Den Mut haben, lange zu überlegen. Erfahrungen auch mal sacken lassen.

An Orte gehen, an denen man zur Ruhe kommt. Stillstehende, verlässliche Orte. Familie, Freunde, Religion, Heimat. Was auch immer. Abgedroschener Burnout-Ratgeber für Anfänger? Ich persönliche brauche es.

Dann kann ich mich wieder erinnern, wie die Luft roch in New York. Wie die stickige gelbgoldene Glut aus Taxis und Imbiss-Abluft sich hektisch durch den Asphaltdschungel frisst. Wie junge Leute aus aller Welt ihren Zielen nachrennen. Wie alles in Bewegung ist und ich mich fühlte als wäre ich Teil von etwas Wichtigem und Großen.

Dann erinnere ich mich, an die Farben in Äthiopien, die Musik in Spanien und den Kaffee in Kosovo. Dann überkommt mich das Gefühl tiefer Dankbarkeit, dass ich Teil dieser Generation bin. Dann realisiere ich, dass es Aufgaben gibt, die in der Ferne gelöst werden müssen. Dann möchte ich losrennen, entdecken, gestalten. Dann denke ich, dass es gut war, sich durch eine Entscheidung gequält zu haben.

Dann kann ich auf den Zug aufspringen, von dem sie spricht. Weil ich weiß, worauf ich springe, warum ich springe und wo ich lande, wenn ich herunterfalle.

Vielleicht ist der Zug die falsche Metapher für eine internationale Karriere. Vielleicht ist sie eher wie ein Karussell. Schnell, berauschend, interessant. Aber ab und zu muss man absteigen. Denn wenn man nicht manchmal festen Boden unter den Füssen spürt, wird einem schwindelig.