Den Krieg beenden, bevor es zu spät ist
Frankreich, Großbritannien und die USA diskutieren über ein Aufheben des Waffenembargos an syrische Rebellen im Kampf gegen Assad. Doch der (…)
8. Mai 2013
Ein Beitrag von Marcia Catherine Schenck
Lebenswandlungen: Mittendrin in der Welt
Reflektionen über das Leben nach acht Monaten Mercator Kolleg
Wir alle kennen Reinhard Meys Über den Wolken. Nur von seiner Gitarre begleitet, besingt er 1974 den Perspektivenwechsel, der es uns erlaubt, uns aus dem schnelllebigen Alltag zurückzuziehen und die Welt und unser Leben einmal aus der Vogelperspektive zu betrachten.
“Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann
Würde was uns groß und wichtig erscheint
Plötzlich nichtig und klein”
In diesem Lied spricht Mey weiterhin von der Sehnsucht, mitzufliegen. Es schwingt der Wunsch mit, sich zurückzulassen und andernorts neu auszuprobieren und zu erfinden. Ein bisschen grenzenlose Freiheit und das Geschenk, sich an verschiedenen Orten in verschiedenen Arbeitsumwelten einfügen zu dürfen, das beschert uns das Mercator Jahr. In den ersten neun Monaten allein schwang ich mich von Aceh bis Zürich bereits dreiundzwanzigmal in die Lüfte. Reichlich Zeit, um zu reflektieren. Nirgendwo kann man so gut darüber nachdenken wer man ist, was man will, und wo man die Sinnhaftigkeit seines Lebens sieht, wie beim Eintauchen in die Andersartigkeit durch das Reisen.
Über Möglichkeiten und Entscheidungsfindungsprozesse
Allein, mittendrin in der Welt, wandeln 24 Mercatoris über die Kontinente. In der Flut von Eindrücken und Möglichkeiten, die es hierbei zu verarbeiten gilt, lässt man sich treiben, mal gemächlich, dann wieder kraftvoll gegen die Strömung anschwimmend und schließlich geht man manchmal auch unter – wobei es eigentlich nichts besseres gibt, als den vor sich hin dümpelnden Kanälen zu entkommen und mal so richtig nach Luft zu schnappen. Einige von uns haben dieses Jahr gewählt (oder besser, es hat uns gewählt), nicht zuletzt weil es uns die gestalterische Freiheit gibt, loszufahren, loszulassen und eigenverantwortlich, beruflich wie privat, Neues zu entdecken.
Die heutige Flut von Möglichkeiten scheint auch ein Generationenmerkmal zu sein. Wir können das Drehbuch unseres Lebens in Eigenregie schreiben, vergleichsweise frei von vielen gesellschaftlichen Zwängen, die andere Generationen noch entschieden beeinflusst haben. Noch nie war es vergleichsweise so vielen Menschen möglich, Auslandserfahrungen zu sammeln, sich Zugang zu verschiedenartigen Informationen zu verschaffen, und in Echtzeit kostengünstig mit der ganzen Welt zu kommunizieren. Das Mercator Jahr ist wie ein Brennglas, das diese Erfahrungen in konzentrierter Form greifbar macht, gerade, wenn es im Dreimonatstakt über die Kontinente geht.
Unzählige Möglichkeiten und der Auswahlprozess, prägen, wie alle, die ein Mercator Jahr sinnerfüllend gestalten dürften wissen, sowohl dieses Jahr im Kleinen wie auch unser Leben im Großen. Jeder entwickelt sein eigenes Prinzip mit dem Umgang von Möglichkeiten, es ist in jedem Fall ein Prozess der Bewusstseinsfindung. In einem Jahr der Ausnahmen gibt es keine Automatik, wo der Kaufmann ist, wie man an Geld kommt, welche Simkarte man braucht, alles ändert sich stetig. Beim alltäglichen Funktionieren in unterschiedlichsten kulturellen Kontexten werden unsere Annahmen immer wieder auf den Kopf gestellt. Diese ständigen Perspektivenwechsel zwingen zur Anwesenheit und animieren zum bewussten und aufmerksamen Leben. Daran erinnert mich hier in Buenos Aires das wunderbare spanische umgekehrte Fragezeichen “¿” bildhaft. Offenheit und Flexibilität sind gefragt, damit man alle Möglichkeiten abwägen kann, die für die man sich einsetzt, und die, die an einen heran getragen werden.
Je mehr Menschen von Jakarta bis Buenos Aires ich zuhöre, desto mehr ergeben die tröstlichen Worte SorenKiekegaards einen Sinn: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Ziele formulieren, darauf hin arbeiten, darin bin ich gut. Viel wertvoller ist die Erfahrung, dass es nicht nur darauf ankommt. Das die meisten Biographien wirklich erst im Rückspiegel einen Sinn ergeben. Das man zu verschiedenen Zeitpunkten in seinem Leben unterschiedliche Antworten auf die W-Fragen, Wer, Was, Wo, Wie, Warum, geben darf. Das vieles im Wandel ist und bleibt.
Im Spanischen und Portugiesischen unterscheidet man beim Sein zwischen dem permanenten ser und dem vorübergehenden estar. Es braucht mehr Mut zum estar. Man spricht nicht umsonst bildhaft vom Fluss des Lebens. Daher nützt es nichts, sich im übermäßigen Planen und Vorsorgen zu verlieren, denn das birgt die Gefahr, den Blick für sich neu Bietendes zu verstellen und sich am Ende von sich selbst zu entfernen. Dieses Jahr schenkt uns die Freiheit, uns darüber klar zu werden was uns anspornt, fesselt, bewegt und erfüllt, um dann Ja sagen zu können zu unserem individuellen Weg. Die amerikanische Aufforderung, „Follow your heart, follow your passion!“ mag für manch einen merkwürdig naiv klingen. Für mich ist es die Bestätigung, die ich in diesem Jahr immer wieder erhalte; dass es befreiend ist, anstatt „entweder…oder“ „sowohl…als auch“ zu denken und zu verbinden was einem zunächst gegensätzlich erscheint. Und wenn das mal nicht so klappt, dann haben die Amis noch ein weiteres passendes Sprichwort parat: „Everything will be ok in the end, if it is not ok, it is not the end.“
Schlussendlich ist kein Mercator Jahr wie das andere. Es hätte neben dem Weg, den jeder selbst gewählt hat, links und rechts noch unzählige Pfade der Ausgestaltungsmöglichkeiten dieser einzigartigen Zeit gegeben. Alles ist möglich, das ist Segen und Fluch zugleich.
Über Glück, Zu Hause und das moderne Nomandentum
Das Thema Be- und Entschleunigung ist nicht nur auf der Startbahn relevant, es will mir auch über den Wolken nicht aus dem Kopf gehen. Was ist Glück? Wie verändern einen die vielen Auslandsaufenthalte? Was bedeutet Zuhause?
Das traditionelle Rezept zum Glück mit dem unsere Eltern aufwuchsen, 40 Jahre im gleichen Beruf, Ehe, Kinder, Eigenheim und Ferien auf dem Land, ist in dieser Form überholt und wird doch weiterhin oft heimlich als Maßstab angelegt. Wie sieht eine neue Version aus, die eines digitalen Weltenbürgers? Für Meike Winnemuth ist „Glück … ein Gefühl von Möglichkeit sich ein anderes Leben vorstellen zu können.“ Dies haben wir mit unserer Mercatorbewerbung getan und wurden mit bis zu vier verschiedenen Lebensproben und mindestens ebenso viel Glück belohnt. Doch gerade für Nomaden der internationalen Betätigungen, ist es wichtig die Balance zwischen Be- und Entschleunigung im Leben nicht aus den Augen zu verlieren.
Bei vielen von uns ist die Fliehkraft stärker als die Schwerkraft, und so brechen wir immer wieder auf zu neuen Ufern. Die Beschleunigung kommt dann von ganz allein, wenn man wachen Auges durchs Leben geht und auch nur ein Bruchteil der sich anbietenden Möglichkeiten wahrnehmen möchte. Der leistungsorientierte Lebensstil in der globalen Wettbewerbsgesellschaft tut sein Übriges. In einer sehr beschleunigten Phase, so spannend und adrenalinausschüttend sie auch sein mag, kommt der Mensch jedoch nicht zum Reflektieren, Verarbeiten und Abwägen. Dies ist aber unabdingbar, vor allem wenn durch jahrelange Auslandsaufenthalte der Autopilot der Routine wenig zum Einsatz kommt.Ohne Kontinuität können nur wenige von uns glücklich leben, doch schaffen wir es, unsere eigenen Pfeiler zu sein in einer Welt der 3- bis 6-Monatsverträge, Fernbeziehungen und ständig wechselnden Aufenthaltsorten? Ich selbst kann mir das nur vorstellen, wenn ich klar dem folgen kann, was mich mit Sinn erfüllt. Und wenn ich mich an all den neuen Orten immer wieder herausfordere, jedes Mal von Neuem ganz bewusst hinsehe, hinhöre, und mich zum Bleiben einhake.
Um flexibel zu bleiben, wie es ein Leben im globalen Kontext verlangt, ist es wichtig sich ein eigenes Fundament zu erarbeiten, ein Prozess der mit Zugehörigkeitsfindung einhergeht. Aus unseren Wurzeln schöpfen wir Kraft, durch sie erden wir uns, ohne sie könnten wir so viel Veränderung und Andersartigkeit nicht standhalten. Was ist also dieses magische Zuhause? Zunächst ist Zuhause im Ursprung. Wo wir geboren werden, da kommen wir her. Doch das Gefühl eines Zuhauses kann sich im Leben aufgrund ganz unterschiedlicher Erfahrungen mehrmals verschieben. Nach neun Jahren auf vier verschiedenen Kontinenten ist Zuhause für mich zur Zeit kein Ort, sondern ein Gefühl der Entspannung und des Loslassenkönnens in Gesellschaft von Menschen, mit denen ich ganz ungeschminkt ich selbst sein kann. Zuhause kann ein Ort, eine Beziehung, ein Hobby, eine Ausdrucksweise sein, alles was einem ein Zugehörigkeitsgefühl und Geborgenheit vermittelt. Der Begriff „Zuhause“, muss nicht notwendiger Weise im Singular Verwendung finden. Es ist ein Privileg, immer wieder aufs Neue lokale und globale Zuhause miteinander verbinden zu können.
Unser Nomadenleben gleicht einem Urwalddickicht. Wurzel und Lianen verbinden uns mit all den Menschen, die uns an den verschiedenen Orten wichtig geworden sind, den Plätzen, an denen wir ein Stück von uns zurücklassen. In gewisser Weise besteht die Wahl zwischen Heim- und Fernweh nicht mehr, man hat immer Fernweh, da die globale Ersatzfamilie verstreut ist. Unser Leben wird nun zu einem Balanceakt, zwischen Kommunikation mit all den anderen Orten der Verbundenheit auf der einen und Engagement in der neuen Umgebung auf der anderen Seite. Es geht um das Annehmen unserer permanenten Liminalität. Es geht aber auch darum, auf neue Menschen und Orte offen zuzugehen und nicht nur als Beobachter außen vor zu bleiben und trotzdem diejenigen, die weit weg von uns sind, nah heran- und teilhaben zu lassen.
Ein Ortswechsel bedeutet genauso den Verlust von Zugehörigkeit, Nähe und Kontinuität, wie den Gewinn von neuen Eindrücken, Aufgaben und Beziehungen. Idealerweise erreicht man ein Gefühl der Weltgeborgenheit, wenn es einem gelingt Vertrautheiten und Zusammenhänge zu sehen, und sich immer wieder neu zu verwurzeln und ganz bei sich anzukommen. In diesem Sinne halte ich es mit Mark Twain:„In 20 Jahren wirst du dich mehr über die Dinge ärgern, die du nicht getan hast, als über die, die du getan hast. Also wirf die Leinen los und segle fort aus deinem sicheren Hafen. Fange den Wind in deinen Segeln. Forsche. Träume. Entdecke.“ Danke, Mercator!