18. März 2021

LSBTIQ: “Nach wie vor ein weiter Weg zur Gleichberechtigung”

18.03.2021 — New York, USA

Ein Gespräch mit Dr. Julia Ehrt über die globale Lage der LSBTIQ Community und die Rolle internationaler Organisationen.

Dr. Julia Ehrt leitet die programmatische Arbeit von ILGA World, der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association. Vorher war sie Geschäftsführerin von Transgender Europe. Die promovierte Mathematikerin setzt sich seit über 20 Jahren für die Rechte von queeren Menschen ein und ist Mitbegründerin von TransInterQueer in Berlin.

Berenike Schott hat sie zur Lage der LSBTI Community im Kontext der internationalen Zusammenarbeit interviewt und fasst in diesem Beitrag das Gespräch zusammen. Im Gespräch ging es sowohl um eine Außenperspektive wie auch um einen Blick nach innen:

  • Wie ist die aktuelle globale Lage der LSBTIQ Community und was können internationale Organisationen tun?
  • Und wie können internationale Organisationen ihre eigenen queeren Mitarbeitenden schützen und unterstützen?

Ein Bild der Lage

Wie steht es um die Lage von Menschen weltweit, die zur LSBTIQ Community gehören, sich also als lesbisch, schwul, bisexuell, trans-, intergeschlechtlich oder queer identifizieren? Julia Ehrt sieht seit einigen Jahren eine grundsätzlich positive Entwicklung, was den Rechtskontext in vielen Ländern angeht, gerade in Bezug auf die Situation von schwulen und lesbischen Menschen.

Das liege allerdings auch am sehr niedrigen Niveau, auf dem wir begonnen hätten. Weiterhin werde Homosexualität in 69 Staaten strafrechtlich verfolgt, also in über einem Drittel aller UN Mitgliedstaaten. In sechs Staaten könne aufgrund von sexueller Orientierung die Todesstrafe verhängt werden und in fünf weiteren könne dies im Kontext der Scharia geschehen.

Die Weltkarte von ILGA bietet einen Überblick über den Stand der Gesetzeslage. Interaktive Version auf ilga.org.

Die Rechtslage für trans- und intergeschlechtliche Menschen ist laut Ehrt noch schlechter. In vielen Ländern werde Transgeschlechtlichkeit kriminalisiert, zum Beispiel im Rahmen sogenannter Moralgesetze. In weniger als 80 Ländern könnten Menschen derzeit ihre Namen und den Geschlechtseintrag offiziell ändern — ein wichtiges Recht für trans- und auch einige intergeschlechtliche Menschen. In 13 Ländern sei Transgeschlechtlichkeit explizit kriminalisiert.

Neben rechtlicher Unsicherheit oder sogar aktiver strafrechtlicher Verfolgung und Diskriminierung, müssten viele LSBTIQ Personen mit Diskriminierung im Alltag leben, konstatiert Ehrt. Gewalterfahrungen, Diskriminierung in allen Lebensbereichen und soziale Ausgrenzung prägten das Leben vieler. Eine Statistik zur Lebenserwartung von Transfrauen of Color zeige, dass diese im Schnitt nur ihr 35. Lebensjahr erreichen — ein trauriges Zeugnis von Gewalt, Armut, und mangelndem Schutz.

Gute Aussichten, doch viele Stolpersteine

Der Weg zur Gleichberechtigung sei noch sehr lang und nicht ohne Gegenwind, erklärt Ehrt. In vielen Ländern verbessere sich die rechtliche Lage der LSBTIQ Community Schritt für Schritt. Doch selbst bei Organisationen, die zu Menschenrechtsthemen arbeiten, herrsche noch viel Unsicherheit und Unwissen beim Thema Trans- und Intergeschlechtlichkeit.

Ehrt stellt fest, dass die Bewegung für die Gleichberechtigung von transgeschlechtlichen Menschen in den letzten fünf Jahren zunehmend unter Druck gekommen sei. Backlash gegen geschlechtliche Selbstbestimmung komme dabei aus drei unterschiedlichen Richtungen:

  • von konservativen und religiösen Akteuren
  • von Teilen der Frauenbewegung
  • von Teilen der schwul-lesbischen Strömung innerhalb der LSBTIQ Community

Zusammenhalt und das gemeinsame Vorantreiben von Rechten für (Cis-)Frauen, Schwule und Lesben, und trans- und intergeschlechtlichen Menschen, sieht Julia Ehrt als enorm wichtig an, um die Gleichberechtigung aller zu erreichen und zu sichern.

Der Blick nach innen: Gleichstellung am Arbeitsplatz

Und wie können Organisationen, die in der internationalen Politik und Zusammenarbeit tätig sind, Orte werden, in denen queere Mitarbeiter:innen sicher sind, gefördert werden und ihr volles Potenzial entfalten, nach dem Motto not just survive but thrive? Hier sieht Julia Ehrt erheblichen Handlungsbedarf und unterstreicht, dass viele Veränderungen sehr einfach umzusetzen wären.

Für international tätige Organisationen gibt Julia Ehrt folgende konkreten Handlungsempfehlungen:

Sicherheit

  • Über die Rechtslage der LSBTIQ Community in den Ländern informiert sein, in denen die Organisation Mitarbeiter:innen anstellt oder sie dorthin auf Dienstreisen sendet
  • Mitarbeiter:innen informieren und aktiv vor Kriminalisierung und Diskriminierung schützen 

Familie

  • Die internen Richtlinien überprüfen und sicherstellen, dass 
    Partner:innen von queeren Mitarbeiter:innen dieselben Rechte wie alle anderen Partner:innen haben (z.B. bei Versicherung, Visa usw.).
  • Dasselbe gilt für Regelungen im Zusammenhang mit Kindern: Regenbogenfamilien sollen dieselben Rechte haben wie alle anderen (z.B. bei Elternzeit, Versicherung usw.).

Transition

  • Namensänderung ermöglichen und einfach gestalten
  • Medizinische Kosten übernehmen oder zumindest unterstützen

Psychosoziale Begleitung

  • Mitarbeiter:innen den Zugang zu LSBTIQ-sensibler psychosozialer Begleitung ermöglichen
  • Kosten übernehmen oder zumindest unterstützen 

Tägliches Büroleben

  • Genderneutrale Toiletten
  • Kleidungswahl respektieren (Stichwort “cross-dressing”)
  • Nach Namen fragen statt automatisch vom Ausweisdokument übernehmen (z.B. für Emailadresse, Badge, Türschild)

Wo wegen Rechtslage und Länderkontext Veränderungen nicht möglich seien, könnten Organisationen darauf achten, dass dies gerade intern und informell möglich ist und respektiert wird, sagt Ehrt. Sie betont, dass alle diese Empfehlungen sowohl für internationale als auch lokale Mitarbeiter:innen gelten sollten. Gerade sie seien öfters Diskriminierung und Kriminalisierung ausgesetzt.

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