26. April 2013

Mauern und geteilte Städte Weltweit – Interview mit dem Fotografen Kai Wiedenhöfer

Kai Wiedenhöfer, 47, hat Mauern in der ganzen Welt foto­grafiert: in Berlin, Belfast, in den besetzten palästinensischen Gebieten und an der amerikanisch-­mexikanischen Grenze. Stephanie von Hayek und Susanne Skoruppa trafen ihn an der West Side Gallery in Kreuzberg, wo seine Ausstellung
WALLONWALL gezeigt wird. Die Anbringung der groß­formatigen Fotos dauerte zwei Tage. Wiedenhöfer ist leicht genervt. Fast jeden Tag muss er Beschmierungen auf seinen Fotos entfernen. Sechs Jahre brauchten die Behörden, um ihm die Genehmigung für seine Fotoausstellung auf der Rückseite der Mauer zu bewilligen.

ad hoc: Herr Wiedenhöfer, was hat Sie motiviert, Mauern zu fotografieren?

Kai Wiedenhöfer: Ich habe 1989 den Mauerfall fotografiert. Ich war 23 Jahre alt und im ersten Semester meines Fotografie­studiums an der Folkwang Schule in Essen, als ich mit einem amerikanischen Fotografen sprach, der meinte, er würde sofort nach Berlin fahren. Unsere Professoren verhielten sich dazu nicht. Wir fuhren und waren vier Tage in Berlin. Danach sind wir wieder zurück, weil wir dachten: Folkwang Schule, furcht­bar wichtig. Wir wären besser zwei Wochen hier geblieben.

ad hoc: Wie ging es weiter?

Kai Wiedenhöfer: Die Idee war damals: Jetzt haben wir eine freie, grenzenlose Welt, alles wird in Ordnung sein. Doch in den letzten 25 Jahren ist genau das Gegenteil passiert. Ich habe etwa 6 500 bis 7 000 Kilometer Mauer gesehen.

ad hoc: Was ähnelt sich in den Städten, die Sie gesehen haben?

Kai Wiedenhöfer: Das Generelle ist diese simple Idee und intuitive Reaktion: Wir lösen den Konflikt, indem wir eine Mauer bauen. Damit ist das Problem weg. Wir haben mit der Berliner Mauer gesehen, dass das nicht funktioniert. Eine fast kindliche Herangehensweise, weil es nichts löst. Im Gegenteil: Es macht die Probleme größer. In Baghdad zum Beispiel bei den Schiiten und Sunniten wurde früher über die Konfession hinweg geheiratet. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Es separiert sich. Damit wachsen dann Ideen, die man von der anderen Seite hat. Sie wachsen im Kopf, haben aber mit dem realen Leben nichts mehr zu tun.

ad hoc: Man nährt die Phantasien.

Kai Wiedenhöfer: Ja, das Feindbild, den schwarzen Mann. Man sieht das sehr gut in Belfast, in Baghdad und in den von Israel besetzten Gebieten.

ad hoc: Gibt es jenseits dieser Ähnlichkeiten auch Unterschiede, die Sie in den geteilten Städten beobachtet haben, etwas ganz Spezifisches, das Sie anderswo nicht gesehen haben?

Kai Wiedenhöfer: Die Konflikte sind auf ganz verschiedenen Levels. In Baghdad gab es letzten Monat 1 000 Tote. Baghdad ist im Prinzip ein großes Militärcamp. In Nordirland gab es während der Unruhen in den 60ern und 70ern 3 500 Tote über einen Zeitraum von 15 Jahren.

ad hoc: Gehen die Menschen unterschiedlich mit der Mauer um?

Kai Wiedenhöfer: Natürlich gehen Sie damit anders um, aber das sind auch die Strukturen. In Baghdad gibt es elf oder zwölf sunnitische und schiitische Ghettos, das heißt die Separierung wächst gerade erst, während sie in Belfast sehr alt ist und auch bloß von Straßenzug zu Straßenzug geht. Die längste Mauer in Belfast ist 1,5 oder 2 Kilometer lang. Es gibt 48 verschiedene. In Baghdad dagegen steht man auf einer Autobahnbrücke und sieht vier Kilometer Mauer links und rechts davon: Auf der einen Seite ist das sunnitische, auf der anderen das schiitische Viertel. Dort fand ein riesiger Krieg statt. Daher ist die Ge­schichte jeder Mauer sehr verschieden.

ad hoc: Welches menschliche Bedürfnis steckt dahinter, Mauern zu bauen? Man hat ja auch Häusermauern und im Mittelalter gab es die Stadtmauern.

Kai Wiedenhöfer: Schutz. Und es ändert sofort das Verhältnis zu meinem Nachbarn, wenn ich eine Mauer baue. Wie Winston Churchill gesagt hat: Erst schaffen wir Gebäude und wenn sie einmal stehen, dann beeinflussen sie uns. Es ist ein umgekehrter Prozess, der stattfindet.

ad hoc: Obwohl die Menschen sehen, dass die Mauern nach einer gewissen Zeit wieder eingerissen werden, bauen sie diese trotzdem. Warum?

Kai Wiedenhöfer: Das ist einfach dieser Reflex, mehr ist es ja nicht. Meistens ist es so, dass die Imperien, die Mauern bauten, auch fielen. Das beste Beispiel ist die amerikanisch­-mexikanische Grenze. Dort haben sie für vier Milliarden Dollar gebaut, aber die Mauer ist nur ein Geschwindigkeitshemmer. Sie ist physisch da und man kann sagen: Seht nur, wir tun etwas gegen Immigration. Aber sie löst überhaupt nichts. Um das auszugleichen, müsste man das wirtschaftliche Gefälle zwischen Mexiko und den USA beseitigen. Innerhalb der EU, nicht nach außen, versucht man den wirtschaftlichen Unterschied zwischen den Ländern anzu­gleichen. Das ist, glaube ich, der Prozess, der längerfristig zu einer Lösung führt. Diese ökonomischen Verwerfungen, die wir haben, sind extrem. An den EU­-Außengrenzen haben wir Menschen, die auf ihren Schiffen sterben. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Inzwischen geht man von 15 000 bis 25 000 Toten im letzten Jahrzehnt aus. Keiner redet darüber. Es gibt kein Denk­ mal für sie. Sie verschwinden im Mittelmeer und weg sind sie. Damit ist das Problem auch nicht mehr greifbar.

1/2Besucher der Ausstellung WALLONWALL @ Kai Wiedenhoefer
2/2Eine irakische Frau schaut durch eine Lücke in der Mauer in Baghdad © Kai Wiedenhoefer

ad hoc: Symptombehandlung, aber die Wurzeln des Übels werden nicht behandelt.

Kai Wiedenhöfer: Es ist immer so: Es ist nur ein Vorzeige­ objekt, vor allen Dingen in den USA. Es ist auch eine mentale Sache, weil die Grenze dann da ist und sie sich auch psychologisch bei den Leuten manifestiert.

ad hoc: Aus den Augen, aus dem Sinn?

Kai Wiedenhöfer: Nein, nicht aus den Augen, aus dem Sinn. Die ist ja da. Jeder, der in Amerika lebt, weiß: Wir haben diese dicke Mauer gegen Mexiko und das hilft. Die Leute verinnerlichen das.

ad hoc: Haben Sie mit Menschen gesprochen, die von der Mauer direkt betroffen sind?

Kai Wiedenhöfer: Dort, wo eine Mauer gebaut wird, stirbt das Leben. Menschen, die ein Geschäft dort hatten, haben jetzt keine Kunden mehr. Die wirtschaftliche Grundlage für Menschen, die direkt an der Mauer wohnen, wird ihnen entzogen. Die Folge: Die Quartiere verarmen oder zerfallen.

ad hoc: Und werden Niemandsland?

Kai Wiedenhöfer: Nein, nicht Niemandsland. Meistens ziehen die Wohlhabenderen und der Mittelstand heraus, zumindest aus diesen Gegenden, und die ärmeren Leute rücken nach. Manchmal ist das ganz extrem, wenn Häuser leer stehen.

ad hoc: In Ihrer Ausstellung wird das ganz gut in einem Foto von Belfast mit den heruntergekommenen Häusern gezeigt.

Kai Wiedenhöfer: Diese sind in der Zwischenzeit zerstört. Das ist der letzte Schritt. Ich dachte, sie bauen sie wieder auf, aber das haben sie nicht gemacht.

ad hoc: Haben Sie Menschen fotografiert oder mit ihnen gesprochen, die am Mauerbau beteiligt waren?

Kai Wiedenhöfer: Ja, mit Danni Tirza, dem Chefplaner der israelischen Mauer. Das war ein Interview mit Newsweek zu­ sammen. Er war ein echter Technokrat. Der hätte alles machen können. Er hatte überhaupt keinen menschlichen Bezug zu der ganzen Sache.

ad hoc: Die, die bauen, sind auch von der Mauer betroffen?

Kai Wiedenhöfer: Nein, die Leute natürlich nicht. Wenn reiche Leute betroffen sind, werden diese ihre Interessen immer schützen. Dann baut man 500 Meter irgendwo anders oder sie kaufen Milizen oder den Stadtrat, der Einfluss ist so groß, die haben immer Möglichkeiten. Nicht wie der kleine Schlachter, der einen kleinen Laden hat und dem sie die Mauer vor die Nase gesetzt haben. Der kann nichts machen.

ad hoc: Die Mauer als Instrument, um Ungleichheit aufrecht zu erhalten?

Kai Wiedenhöfer: Ja, klar. Für die Menschen, die direkt an der Mauer wohnen, bedeutet es Machtlosigkeit. Gerade in Israel können sich die Menschen sehr schlecht wehren. Das kleine Dorf Bil’in, hat drei Viertel seiner landwirtschaftlichen Fläche ver­loren. Das wurde einer israelischen Siedlung zugeschlagen. 2005 fingen sie an zu demonstrieren. Es gab einen Bescheid vom obersten israelischen Gerichtshof, dass das Land zurück gegeben werden muss. Dieser wurde nicht umgesetzt. Die Demonstra­tionen gingen weiter, sie versetzten die Mauer, aber nicht ganz nach der Grenzziehung, wie sie der oberste israelische Gerichts­ hof beschlossen hatte. Jeden Freitag haben sie demonstriert. Es gab auch viel internationales Interesse. Schließlich wurde es zu teuer, die Grenzpatrouille und die Armee immer dort zu haben.

ad hoc: Leider nicht teuer genug, um die Mauer wieder abzureißen.

Kai Wiedenhöfer: Das hat in Israel auch keinen Sinn. 1990 hatten die Palästinenser und die Israelis noch eine klare Vor­stellung voneinander. Die haben sie jetzt nicht mehr. In Gaza lebten 1990 750 000 Menschen. Heute sind es 1,8 Millionen. Wenn du mit zehnjährigen Kindern in Gaza über Israelis sprichst, kennen sie die Namen jeder Drohne und jedes Kampfflugzeugs und das war ̓s. Vielleicht haben sie einen israelischen Soldaten einmal aus der Ferne gesehen. Da ist der blanke Hass. In der Beziehung tut sich gar nichts.

ad hoc: Die Mauer ist auch eine Geschichte über Beziehungen.

Kai Wiedenhöfer: Da geht es nur um Beziehungen.

ad hoc: Was sind die Langzeitwirkungen des/eines Mauerfalls?

Kai Wiedenhöfer: Die Dinge ändern sich nicht von heute auf morgen. Zwar arbeiten die Menschen immer schneller und pro­ duktiver, aber geistig kommen wir nicht hinterher. Die Teilung Deutschlands war 40 Jahre lang Fakt und die Einheit war ein Pro­zess. Insgesamt ist es erstaunlich. Hier bricht nichts auseinander.

ad hoc: Wie hat Sie die Arbeit verändert?

Kai Wiedenhöfer: Man sieht die Freiheiten, die man hat und begreift das Leben ein bisschen anders. Das hat sicher mit der Region zu tun, in der ich lebe. Den Frieden, den wir hier haben, nehmen viele Leute nicht als Privileg wahr. 60 Jahre Frieden in Europa. Mein Vater war im II. Weltkrieg, zwei meiner Groß­ väter sind im I. Weltkrieg gefallen. Die Urgroßvätergeneration war in zwei Kriegen. Der Wohlstand hier … wir können ihn nicht schätzen. Das liegt an diesem „Kauf, kauf­ System“. Das ist schade. Ich brauche für mich selber sehr wenig. Wir verschwenden Milliarden an Euro, indem wir neue Autos und Computer ent­ wickeln, aber wie viel wird in neue Strukturen für die Gesell­schaft investiert? Vermutlich ein Promilliardstel. Wenn jetzt alle Menschen glücklich wären mit dem System … aber die meisten sind unzufrieden.

ad hoc: Das kommt darauf an, welche Studie man gerade liest.

Kai Wiedenhöfer: Ich lese keine Studie. Ich setze mich in die S­Bahn und gucke mir die Leute an oder laufe über den Alexanderplatz. Das hilft mir mehr.

ad hoc: Wird Ihre Ausstellung WALLONWALL auch woanders gezeigt werden, in anderen Städten mit Mauer vielleicht?

Kai Wiedenhöfer: Wir werden das versuchen. Die Kuratorin möchte das sehr gerne. Es ist immer die Frage, wen konfrontiert man damit. In Israel kann man das nur auf palästinensischer Seite machen. Dort haben wir das Problem, wenn wir das auf der Mauer zeigen, die Mauer läuft ja nicht durch. Sie trennt meistens Palästinenser von Palästinensern. Wenn man nach Jerusalem geht vielleicht. In Amerika wäre es gut, es auf ameri­kanischer Seite zu machen. Vielleicht in Belfast auf der Mauer. Aber wir haben sechs Jahre für die Genehmigung in Berlin gebraucht. Es traute sich hier keiner was, wir brauchten selbst ein Gutachten, das der Beton von Tapetenkleister nicht an­ gegriffen wird. Vielleicht werden wir uns nach dem Erfolg von WALLONWALL in Berlin an anderen Plätzen leichter tun.

Kai Wiedenhöfers Buch „Confrontier“ ist im Oktober beim Steidl Verlag erschienen.