11. Januar 2022

Mit Elan gegen Autoritarismus in Zentralamerika

11.01.2022 — Basel, Schweiz

Wie sieht praktisches Engagement für mehr Demokratie aus? Ein Gespräch mit Anna Leissing, Leiterin der Schweizer Plattform für Friedensförderung (KOFF).

Wandbild in Chalatenango, El Salvador, 2021. Bild: Anna Leissing.

Zentralamerika ist ein zentraler Bestandteil in Anna Leissings Leben und Karriere. Gleich nach ihrer Matur reiste sie das erste Mal nach Guatemala — und blieb direkt für ein ganzes Jahr. Seitdem hat Leissing die Faszination für die Region nie mehr verloren. Mittlerweile arbeitet die Leiterin der Schweizer Plattform für Friedensförderung (KOFF) bereits seit rund 20 Jahren zur Region. Sie spricht fliessend Spanisch und reist mehrmals jährlich nach Zentralamerika. In dieser Zeit hat Leissing viel Erfahrung mit autoritären Tendenzen gesammelt, wie sie in Ländern wie El Salvador, Guatemala, Honduras oder Nicaragua zu beobachten sind.

Im Gespräch erklärt Anna Leissing, wie Autoritarismus den Alltag der Bevölkerung in Zentralamerika bestimmt und wie Leissing allen Widrigkeiten zum Trotz die Freude daran bewahrt, den Frieden in der Region zu fördern.

Anna Leissing ist keine Forscherin, sondern in der praktischen Friedensförderung tätig, was sich auch in ihrer Definition eines autoritären Staates zeigt: Für Leissing ist es nicht zielführend, die Welt einfach in schwarz und weiss, sprich in demokratische und autoritäre Kontexte zu unterteilen. Autoritarismus sei dynamisch und erstrecke sich über verschiedene Kategorien auf einem Spektrum. Es gehe darum, durch verschiedene Faktoren zu ermessen, in welchen Bereichen ein Land zu welchem Grad in eine autoritäre Richtung schwingt. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit der Schweiz (Deza) definiert dazu zwei Dimensionen:

  1. Das politische System (Wahlen, Opposition, Dezentralisierung, etc.)
  2. Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum (Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Teilhabe an Entscheidungsprozessen, etc.)

In den Ländern Zentralamerikas beobachtet Leissing autoritäre Tendenzen in beiden Dimensionen. In ihrer Arbeit fokussiert sie aber auf den zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum, der in der Region immer stärker eingeschränkt wird.

Dies geschehe erstens auf institutioneller Ebene durch sogenannte NGO-Gesetze. Vordergründig solle damit die staatliche Souveränität vor fremden Einflüssen geschützt werden, sagt Leissing. De facto gehe es aber darum, die Arbeit von unliebsamen lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen durch juristische und finanzielle Hürden zu erschweren.

Auch auf kultureller und gesellschaftspolitischer Ebene seien mächtige konservative Kräfte wie die Kirche oder das Militär darum bemüht, den (patriarchalen) Status Quo zu sichern und progressive Bewegungen zu unterdrücken. Das bekommen laut Leissing insbesondere feministische Organisationen, die LGBTQ-Community oder Jugendliche zu spüren.

Schliesslich beobachtet Leissing diese autoritäre Tendenz teilweise in offener und direkter Gewalt gegen Vertreter*innen der lokalen Zivilgesellschaft und die weitere Bevölkerung: Diffamierung in den Medien, illegale Verhaftungen, Drohungen bis hin zum Mord seien leider in Zentralamerika alltäglich. Die Region hat trotz einigen Verbesserungen in den letzten Jahren eine der höchsten Mordraten weltweit.

Strassenszene vor den Wahlen 2013, Tegucigalpa, Honduras. Bild: Anna Leissing.

Die offene Gewalt gehe jedoch nicht nur von der Regierung aus, sagt Leissing, sondern auch vom organisierten Verbrechen, das in der ganzen Region, insbesondere aber in Guatemala, Honduras und El Salvador aktiv ist. Zwischen Südamerika und den USA liegend, habe sich Zentralamerika als wichtige Route und Umschlagplatz für Drogen-, Menschen-, und Waffenhandel entwickelt. Die kriminellen Netzwerke, die hinter diesen Aktivitäten stehen, bestimmten nicht nur zu einem grossen Teil das alltägliche Leben der Menschen, sondern hätten einen weitgehenden Einfluss auf die Politik der jeweiligen Länder. Manche sprechen von «Narco-Diktaturen». Leissing sieht einen Teufelskreis: Menschen fliehen vor Gewalt und wirtschaftlicher Not in Richtung Norden und setzen sich damit einem hohen Risiko aus, auf der Reise Opfer von kriminellen Gruppen zu werden, welche die Migrationsrouten kontrollieren.

Dieses Zusammenspiel von autoritärer Regierungsführung und organisiertem Verbrechen mache es sehr schwierig für lokale Bewegungen, gesellschaftliche und politische Veränderungen anzustossen. Dennoch ist Leissing immer wieder beeindruckt vom unermüdlichen Einsatz und dem ausgeprägten politischen Bewusstsein vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Region: Diese seien seit der Kolonialisierung über Jahrhunderte des Widerstands und des Engagements für Selbstbestimmung, Menschenrechte und Frieden gewachsen, insbesondere auch in den dunklen Zeiten der Militärdiktaturen und bewaffneten Konflikte im 20. Jahrhundert. Offiziell habe man heute demokratischere Systeme, doch von Frieden könne in Zentralamerika keine Rede sein.

Was es brauche, sei eine aktive, breite und vielfältige Bewegung für sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandel in Zentralamerika, sagt Leissing. Die Wahlen in Honduras, in denen eine breite Oppositionskoalition gewonnen hat und zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Frau zur Präsidentin gewählt wurde, lassen Leissing hoffen, dass solche Veränderungen trotz erbittertem Widerstand der herrschenden Kreise möglich ist. Solcher Wandel müsse von innen kommen, sagt sie. “Es muss die Lokalbevölkerung sein, die fordert, fördert und vorwärts geht.” Gleichzeitig sei internationale Solidarität nötig, um diese Prozesse voranzubringen und lokale Initiativen zu unterstützen.

Abendstimmung bei der Laguna de Apoyo, Nicaragua, 2021. Bild: Anna Leissing.

Anna Leissings konzentriert sich bei swisspeace und im Rahmen von KOFF darauf, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen vor Ort zu unterstützen. In gemeinsamen Lernprozessen mit lokalen Akteur*innen, Schweizer NGOs und teilweise staatlichen Institutionen der Schweiz gehe es darum, die Situation zu analysieren und gemeinsame Strategien und Ansätze zu entwickeln, um trotz autoritärer Tendenzen die Menschenrechte, den sozialen Zusammenhalt und eine Kultur des Friedens zu fördern. Zu Honduras wurden die Erkenntnisse aus einem solchen Lernprozess vom KOFF publiziert.

Ein zentraler Aspekt der Friedensförderung sei die psychosoziale Dimension, erklärt Leissing. Dabei gehe es insbesondere um die Frage, wie sich Aktivist*innen und Mitarbeiter*innen der lokalen Organisationen gegenseitig stützen und schützen können. Viele von ihnen trügen schwer am aussichtslos anmutenden Kampf für ihre Rechte und liefen in Gefahr, auszubrennen. Aus diesem Grund startete Leissing zusammen mit Aktivist*innen, anderen Schweizer NGOs und lokalen Organisationen eine psychosoziale Lerngruppe, um gemeinsam Methoden zu entwickeln, wie die psychosoziale Gesundheit mit Selbstfürsorge und solidarischer Unterstützung im Kollektiv gefördert werden kann. 

Ihre eigene Motivation zieht Anna Leissing aus ihrer tiefen Verbundenheit und Liebe zu Zentralamerika: Jedes Mal, wenn sie in die Region reist, fühle es sich an, wie nach Hause zu kommen, sagt sie. In all der Gewalt und dem Chaos herrsche eine Lebensfreude und Vitalität, die inspirierten. Besonders schätze sie die tiefgründigen Gespräche, die Menschlichkeit und die Emotionalität im Austausch mit Aktivist*innen in Zentralamerika, sagt Leissing. Da im Vergleich zur Schweiz wenig Struktur vorliege und viele Prozesse mehr schlecht als recht funktionierten, gäbe es viel Raum für Kreativität und Solidarität. Es sind diese prägenden Erfahrungen, die Leissing motivieren, sich weiterhin für Menschenrechte und Frieden in Zentralamerika einzusetzen.

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