3. Mai 2022

nefia-Funk #1: Was passiert in Russland?

03.05.2022 — Berlin, Deutschland

Am 40. Tag der russischen Invasion der Ukraine trafen sich knapp 30 nefiat*innen, um “der neuen Unordnung mit der Expertise des Netzwerks zu begegnen”, wie es die Initiantin Stephanie von Hayek formulierte. Im Fokus dieses ersten Austauschs: Das opake Russland.

Geladen zum Onlinetreffen am 4. April waren russische Kulturschaffende und Intellektuelle, die sich noch im Land befinden oder es erst kürzlich verlassen haben. An der Veranstaltung wurden sie vorgestellt, hier bleiben ihre Namen unerwähnt. Ziel der Veranstaltung: In der eigenen Ratlosigkeit über den schrecklichen Krieg wenigstens besser verstehen, was in Russland aktuell vor sich geht. “Angetreten sind wir alle einmal für die Völkerverständigung, nun sind wir mehr denn je herausgefordert,” so Hayek.

Das Stimmungsbild in Russland wurde von den Teilnehmenden folgendermassen beschrieben:

  • Die grosse Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter dem Krieg — die Hetze funktioniere. Auf der Straße höre man Menschen, die forderten “die Ukraine komplett zu zerbomben.” Die Wunden des Zweiten Weltkriegs seien noch nicht verheilt. In Weissrussland und in der Ukraine hätte es damals Leute gegeben, die mit Nazi-Deutschland kollaborierten. Alter Hass und Ressentiments würden jetzt gezielt geschürt. 
  • Berichte über die Opfer in der Ukraine würden ausgeblendet — die Leute wollten nichts darüber wissen. Unabhängige Medien seien systematisch unterdrückt. Wenige trauten sich, regierungskritische Meinungen zu äußern. Die Staatspropaganda wirke — nicht bei den Kreativen in Moskau, St. Petersburg und Novosibirsk, sonst aber schon. Die eine oder andere Grossmutter hätte sich gefragt, ob es in Deutschland genug zu essen gäbe, weil sie im Fernsehen Bilder von leeren Supermarktregalen gesehen habe.
  • Der Westen und die NATO als Feindbild seien sehr präsent. Zentral für diese Erzählung sei der Ausschluss des russischen Teams von den olympischen Spielen aufgrund des Doping-Skandals gewesen. Der Eindruck: “die anderen machen das auch, aber nur wir werden bestraft.” Die Sanktionen gegen Russland bestätigten diese Wahrnehmung, “immer die Schlechten” zu sein. Sie stärkten die Erzählung von Russland als einem “zu Unrecht verurteilten Land” und würden intern die Reihen gegen den Westen schliessen.
  • Das Feindbild paare sich mit einem Minderwertigkeitskomplex: Freunde und Feinde von Putin würden den Westen als etwas Heiliges empfinden — “mit Menschen erster Klasse, besser, schlauer, reicher als wir.” Daraus würden sich Frust und Bitterkeit ergeben. Selbst das politische Spektrum sei im Verhältnis zum Westen definiert —  nicht von rechts nach links, sondern von pro-westlich zu pro-slawisch.
  • Nur eine kleine, urbane Mittelschicht sei mit dem Westen direkt vertraut. Die meisten Leute in Russland reisten nicht und sprächen keine ausländischen Sprachen.
Der Wunsch, ob der eigenen Ratlosigkeit über den schrecklichen Krieg wenigstens besser zu verstehen, was in Russland aktuell vor sich geht, stand am Ursprung dieses ersten nefia-Funks. Illustration: Christina Baeriswyl.

Als im Februar der volle russische Angriff auf die Ukraine startete, versuchten viele Russ*innen, das Land zu verlassen. Zu diesem Exodus regierungskritischer Bürger*innen kamen in der Diskussion folgende Aspekte zur Sprache:

  • Die  Ausreise sei für viele schwierig gewesen, weil die EU die in Russland verwendete Sputnik-Impfung nicht akzeptiert. Dies habe auf den Flughäfen zu Problemen geführt. Auf dem Landweg sei es einfacher gewesen, aber es sei zu grossen Staus gekommen.
  • Jene, die raus kamen, seien gegangen, wohin sie konnten. Viele seien jetzt von ihren Ersparnissen abgeschnitten, weil sich VISA und Mastercard schnell an den Sanktionen beteiligten und sich aus Russland zurückzogen — “die kreative Klasse, die ins Ausland ging, hat nun keinen Zugang mehr zu ihrem Geld.”
  • Ausländer*innen, die in Russland lebten, hätten zu spüren bekommen, dass sie nicht mehr willkommen waren. Um Papiere zu erneuern, sei man gezwungen gewesen, mehrmals in ein Zentrum 60km ausserhalb von Moskau zu fahren und stundenlang zu warten.

Schliesslich die Frage: Warum protestieren die Russ*innen nicht mehr gegen den Krieg? Die Teilnehmenden reagierten mit folgenden Erklärungsansätzen:

  • Ein Gefühl der Ernüchterung — “wir haben 2008 gegen den Georgien-Krieg protestiert, aber es kam keine Unterstützung aus dem Westen.” Es ist von der Korrumpierung ausländischer Eliten durch Putin, von einer “Schröderisierung”, die Rede.
  • Ein “latenter Bürgerkrieg” — “seit 2014 ist die Bevölkerung in Russland beängstigend gespalten.” Die einen seien nach der Krim-Annexion in eine nationale Trunkenheit getaucht, die anderen hätten gegen den Krieg demonstriert. “Die Spaltung geht durch Familien hindurch. Nun verharren alle in ihren jeweiligen Informationsblasen.”
  • Eine Schockstarre — “wenn man protestiert, erreicht man nichts. Aber man landet für 15 Tage im Knast.”

Am Schluss der Veranstaltung kamen die Schuldgefühle zur Sprache. Wie schwer es sei, aus Russland zu sein. Wie sich jetzt viele Russ*innen an den deutschen Hauptbahnhöfen meldeten, um für die ankommenden Ukrainer*innen zu übersetzen. Dass es trotz allem wichtig sei, Brücken nach Russland zu erhalten — weil es irgendwann eine Zeit nach dem Krieg geben werde.

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