nefia-Funk #1: Was passiert in Russland?
Am 40. Tag der russischen Invasion der Ukraine trafen sich knapp 30 nefiat*innen, um "der neuen Unordnung mit der Expertise des Netzwerks zu begegnen." Der Bericht.
7. Juni 2022
Ein Beitrag von Pia Voelker
„Mitgliederverwaltung (nefia e.V.) + Gentechnikpolitik & Verbändekoordination (BUND Bundesverband)“
07.06.2022 — Berlin, Deutschland
Es ist der 69. Tag nach dem russischen Einmarsch; zahlreiche nefiat*innen aus verschiedensten beruflichen Kontexten und Generationen finden sich online zusammen, um die Gesprächsreihe „nefia-Funk“ zum Krieg fortzusetzen. Dieses Mal liegt der Blick auf der Ukraine. Zentrale Frage des Treffens: Was können wir tun?
Zu Gast ist Igor Mitchnik, Alumnus aus dem Mercator-Jahrgang 2018/19. Er erlebte den Kriegsausbruch vor Ort in Kyjiw. Rund dreieinhalb Jahre lebte und arbeitete er in der Ukraine. Damit könne er aber keine Inneneinsicht bieten wie Ukrainer*innen, die im Land aufgewachsen sind, betont er.
Springender Punkt für Mitchnik: Warum versagen so viele Menschen in Deutschland den Ukrainer*innen in ihrem Überlebenskampf die Unterstützung?
Zu Beginn des Kriegs am 24. Februar 2022 befindet sich Igor Mitchnik in der Ukraine. Die eindeutigen Signale, dass etwas passieren könnte, habe er ernst genommen, engeren Freunden teilte er seinen Standort mit, berichtet Mitchnik.
Dennoch sei ihm wichtig gewesen, lokale zivilgesellschaftliche Partner nochmals zu treffen und mit ihnen abzusprechen, wie man sich bei einer Eskalation verhalte. Er kenne einige umkämpfte Gebiete ziemlich gut und sei auch mit Menschen in Kontakt, die nun unter russischer Besatzung leben müssen. Teilweise seien sie von ihren Familien abgeschnitten.
Mit seinem aktuellen Arbeitgeber, der US-amerikanischen NGO Community Organized Relief Effort (CORE) unterstützt Mitchnik Binnengeflüchtete in verschiedenen Teilen des Landes und lokale Partner, die bis in die Frontgebiete im Osten der Ukraine liefern.
Nach Kriegsausbruch wird Mitchnik aus Kyjiw evakuiert. Er verbringt nur wenige Tage in Berlin. Für ihn sei klar gewesen, dass er in dieser Situation woanders sein müsse.
Wie in Deutschland mit dem Krieg umgegangen werde, sorge in der Ukraine vielerorts für Fassungslosigkeit, beschreibt Mitchnik. Er erwähnt den umstrittenen offenen Brief an Kanzler Scholz, in dem Intellektuelle und Künstler*innen einen schnellen Waffenstillstand und „Kompromiss“ fordern. Auch andere Ereignisse hätten in der Ukraine Wellen geschlagen: Zum Beispiel die Aussage des Finanzministers Lindner an den ukrainischen Botschafter, man zöge Sanktionen nicht in Erwägung, da man aus verlässlicher Quelle wisse, dass die Ukraine schnell besiegt werden würde.
Mitchnik fragt sich persönlich, wie sich Deutschland als europäische Demokratie von dem Angriffskrieg auf die Ukraine dermassen distanzieren kann. Und es sei nicht nur er persönlich: Die Frage würde ihm regelmäßig auch von Ukrainer*innen gestellt, erzählt er.
In der Ukraine würden Aussagen wie jene Lindners als zynisch wahrgenommen. Das werde das deutsche Verhältnis zur Ukraine noch lange belasten, ist Mitchnik überzeugt.
Die Kritik, Deutschland tue nicht genug, um der Ukraine zu helfen, wird auch von anderen Teilnehmer*innen in der Runde wahrgenommen. Es gebe schon Bemühungen, aber die würden dann ins Leere laufen, bringt eine nefiatin ein.
Die Kommunikation zwischen den Partnern könnte ein Problem sein, stimmt Mitchnik zu. Die Ukraine, beziehungsweise ukrainische Organisationen, müssten viel stärker in Entscheidungsprozesse in Deutschland einbezogen werden. Ihre Bedürfnisse in öffentlichen Debatten stärker beachtet. Die Selbstbezogenheit, die ukrainische Stimmen ausblendet, würde auf mehrere Länder zurückfallen, so Mitchnik, nicht nur auf Deutschland.
Mit seinem ehemaligem Arbeitgeber, der Menschenrechtsorganisation Libereco, arbeitet Mitchnik bis Mitte April 2022 mit Menschenrechtsaktivist*innen aus Belarus zusammen. Viele Belarus*innen und Ukrainer*innen hätten erwartet, dass Belarus auf Seiten Russlands in die Kriegshandlungen eingreifen würde, erzählt Mitchnik.
Dass dies bislang noch nicht passiert sei und hoffentlich auch nicht passieren werde, grenze für viele an ein Wunder. Viele Belarus*innen seien infolge der gefälschten Präsidentschaftswahlen von August 2020 und der anschließenden und anhaltenden Repressionen im Land aus Belarus in die Ukraine geflohen und hätten vor Ausbruch der russischen Invasion im Februar angefangen, sich in der Ukraine eine Existenz aufzubauen. Viele dieser Aktivist*innen seien aus Angst vor möglicher Verfolgung durch belarusisches und russisches Militär oder Sicherheitsdienste nun weiter nach Polen, Tschechien, Litauen oder Deutschland gereist. Dort hätten allerdings viele mit bürokratischen Hürden zu ringen.
Während die EU für ukrainische Geflüchtete relativ schnell eine mehr oder weniger einheitliche Linie habe, sei dies für belarusische Geflüchtete nicht der Fall gewesen, berichtet Mitchnik. Aber es seien auch geflüchtete Belarus*innen in der Ukraine geblieben und hätten sich Freiwilligen-Bataillionen angeschlossen, die gegen Russland kämpften.
Von Ende März bis Ende Mai 2022 arbeitet Mitchnik in Polen mit ukrainischen Geflüchteten. In die Ukraine habe er noch nicht zurückkehren können, deswegen sei er ins Nachbarland gegangen, erzählt er. Die dortige Auffassung darüber, mit welcher Art von Krise und Krieg es Europa zu tun habe, liege ihm näher, als jene, der er in Deutschland begegne.
Die beispiellose Solidarität der Pol*innen für die Ukrainer*innen seien nach wie vor bemerkenswert. Das schließe aber nicht aus, dass sich die Stimmung verändern könne. Polen habe selbst wenig Erfahrung mit Einwanderung und werde von einer national-konservativen Regierung geführt, die sich in der Vergangenheit oft migrationsfeindlich positioniert habe. Viele lokale polnische zivilgesellschaftliche Organisationen wollen sich deswegen in Zukunft Projekten widmen, die sozialen Spannungen entgegenwirkten, so Mitchnik.
Welche Rolle internationale Organisationen spielen können ist für Mitchnik offen. Wichtig sei, im Einklang damit zu arbeiten, was das Gastland selbst wolle. Ein wichtiges Thema sei sicher der Wohnraum. Keine Stadt sei darauf ausgerichtet gewesen, innerhalb von so kurzer Zeit so viele Menschen unterzubringen. Die polnische Politik schlage sich auf kommunaler Ebene nicht schlecht. Es ergebe jedoch einen großen Bedarf an psychologischer Hilfe in den Notunterkünften.
Hier diskutieren Fachleute ihre Erfahrung aus der Praxis. Alle drei Monate erscheint ein thematischer Blog zu einer drängenden Frage der internationalen Politik und Zusammenarbeit.