16. März 2013

Pekings „Fake-Over“: Durch Olympia zur „World-Class City“

Seit den Vorbereitungen der Olympischen Sommerspiele 2008 verfolgen die Stadtoberen Pekings das Ziel, die alte chinesische Hauptstadt in eine „World­Class City“ zu transformieren und aus ihr ein Schaufenster für Chinas kometenhaften Aufstieg zu einer Großmacht des 21. Jahrhunderts zu machen. Die Regierung versteht darunter zwei Dinge: Wirtschaftswachstum und die Erschaffung eines Stadtbilds, das eine ganz bestimmte Idee von Chinas Vergangenheit und Gegenwart verbreiten soll. Zum einen Kontinuität mit alten Glanzzeiten und zum anderen das Bild eines modernen, sauberen und zivilisierten Chinas.

Stadtplanung als Identitätskonstruktion. Und als bittere Pille für diejenigen, die nicht von ihr profitieren. Denn vorgegangen wird bei dieser riesenhaften, städtebaulichen Image­Kampagne mit wenig Rücksicht auf kulturelle, historische oder soziale Realitäten. Elend und Tumult aus Vergangenheit und Gegen­wart werden einfach wegsaniert. „Sanierung“ von historischen Vierteln bedeutet zumeist Abriss und stark veränderter, kom­merzialisierter Wiederaufbau. Chinesische Kritiker sprechen angesichts der dabei häufig bemühten historistischen Formen von „Fake­Over“. Allein zwischen 1990 und 2002 verlor Peking so schätzungsweise 40 % seiner jahrhundertealten Bausubstanz. Die Armen im Zentrum, das bewusst als repräsentative Wohn-­ und Arbeitsstätte für Reiche und Beamte ausgebaut werden soll, werden massenhaft in monotone Trabantensiedlungen am Stadtrand umgesiedelt.

Pekings Nord-Süd-Achse: Chinas alte und neue Bühne

Besonders interessant ist, wie in Vorbereitung der Olympischen Spiele Politik und Geschäftsleute Hand in Hand die chinesische Hauptstadt quasi auf den Kopf gestellt haben. Die alte, kaiserliche Nord­-Süd­-Achse, unter Mao lange vernachlässigt, beziehungs­weise sogar städtebaulich bewusst zerstört, wurde durch „Sanie­rungsprojekte“ reaktiviert und neu definiert. Den Auftakt am südlichen Ende der Achse bildet die Rekonstruktion eines in den 1950ern abgerissenen Stadttors, Yongdingmen. Um seinen Denkmalcharakter zu unterstreichen, wurde das umliegende, heruntergekommene Wohnviertel abgerissen und durch einen neuen Park entlang der Achse ersetzt. Südlich des zentralen Tiananmen­ Platzes wurde die traditionsreiche Geschäftsstraße Qianmen Dajie durch Massenabrisse und einen klischeehaften Wiederaufbau in eine Art Shopping­Themenpark des alten Peking verwandelt. Etwas weiter nördlich leuchten nun die ranghöchsten Hallen der Verbotenen Stadt mit den goldenen Hochglanzfassaden von Qianmen um die Wette, so gründlichhat man sie renoviert. Den grandiosen nördlichen Abschluss der Achse bildet der neue Olympiapark mitsamt des spektakulären „Vogelnest“­ Stadions der Schweizer Stararchitekten Herzog und de Meuron.

Um dieses Projekt in seiner epochalen Bedeutung einordnen zu können, muss man verstehen, dass die alte Nord-­Süd­-Achse Pekings ursprünglich die zentrale Ordnungsgröße einer Stadt war, die als Abbild des alt­chinesischen Weltbilds geplant wurde: Im Zentrum der zivilisierten Welt gelegen, rechteckig wie die Erdscheibe, außen von einer mächtigen Mauer um­ geben, im Innern ein Schachbrett von dicht aneinander ge­drängten Hofhäusern mit der gewaltigen Anlage des Kaiser­ palastes im Zentrum. Die ranghöchsten Hallen des Palastes ebenso wie die wichtigsten Tore der Hauptstadt und der Glocken­ und der Trommelturm, die dem gesamten Reich die Zeit vorgaben, liegen auf der zentralen Nord­-Süd­-Achse der Stadt, dem „Rücken des Drachen“, der „axis mundi“ der alten chinesischen Welt. In ihrem Zentrum saß der Herrscher der Welt, der „Sohn des Himmels“, auf dem Drachenthron und blickte durch die Tore des Palastes und der Stadt über die zentrale Achse hinweg gen Süden in sein Reich. Hier, im Mittel­punkt der Welt, ging er seiner kosmologischen Aufgabe nach, durch die Pflege der Riten und eine tugendhafte Herrschafts­ und Lebensführung einen den Menschen wohlgesinnten Himmel zu garantieren.

Blick von Süden auf das Pekinger Nationalstadion, genannt „Vogelnest“ – zentraler Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2008 © Matthias Beckh

Es ist wenig verwunderlich, dass die Kommunisten in den Jahren nach ihrer Machtübernahme 1949 keine Mühen scheuten, die alte Achse und ihre kosmologische Bedeutung vergessen zu machen, ja sogar symbolisch zu zerstören. Zunächst verstellten sie den kaiserlichen Blick gen Süden, indem sie auf die Mitte des Tiananmen-Platzes vor der Verbotenen Stadt das „Denkmal für die Helden des Volkes“ platzierten. Die einzigartige, mächtige Stadtmauer wurde in den 1950ern geschliffen und durch eine Ringstraße ersetzt. Mit ihr fiel auch das zentrale Stadttor Yongdingmen im Süden der Achse. Kurz nach Maos Tod reihte sich der Bau des megalomanen Mausoleums für den „Großen Vorsitzenden“ auf der südlichen Hälfte des Tiananmen- Platzes in diese Liste ein. Entgegen jeder chinesischen Konvention weist es, wie das Volkshelden-Monument, gen Norden. In der Eingangshalle sitzt ein mächtiger Mao aus Marmor und bietet symbolisch dem Kaiserthron und der alten Kosmologie die Stirn. Die kaiserliche Nord-Süd-Achse wurde außerdem in ihrer staatstragenden Bedeutung durch eine neue Ost-West- Achse ersetzt, die Chang-An Dajie. Auf über 40 Kilometer verlängert und für Aufmärsche und Truppenparaden prächtig ausgebaut, wurde sie zur Bühne des neuen, kommunistischen Chinas.

Das China des 21. Jahrhunderts brauchte ebenfalls eine neue Bühne. Die Eröffnungszeremonie der Pekinger Spiele begann um acht Uhr abends am chinesischen Glücksdatum 08.08.2008 mit der Einspielung einer kurzen, aber eindrucksvollen Videosequenz, vom offiziellen Kommentar als „Footsteps of History“ bezeichnet. Sie bestand aus einer Kamerafahrt entlang der Nord- Süd-Achse, den Lauf von gigantischen, roten Feuerwerksfußstapfen verfolgend, vom rekonstruierten Stadttor Yongdingmen im Süden über Qianmen Dajie, Tiananmen-Platz und die Verbotene Stadt hinweg bis hin zum neuen Nationalstadion. Hier markierte ein Feuerwerkstusch am Ende der Sequenz den Beginn der aufwendigsten und teuersten Eröffnungsshow der olympischen Geschichte, vom China-Wissenschaftler Geremie Barmé als mit Symbolik aufgeladene „coming of age party“ dechiffriert. Es liegt nahe, bereits in der aufwändigen Filmeinspielung eine offizielle Botschaft an die Chinesen und den Rest der Welt zu sehen. Die von den „Footsteps of History“ überflogene, sanierte und ergänzte Achse wird als zentraler Ort des heutigen China vorgestellt. Ihre Stadträume machen unmissverständlich klar: China ist wieder da. Es ist wohlhabend, zivilisiert und mächtig und blickt, von einer langen und reichen Geschichte ausgehend, nach vorn in eine glorreiche, moderne Zukunft. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts wird dabei kurzerhand umgeschrieben. Bürgerkrieg, Armut, Massenmorde und Millionen Hungertote, die Katastrophe der Kulturrevolution und die brutal niedergeschlagenen Aufstände von 1989 spielen in dieser Erzählung keine Rolle.

Hohe soziale Nebenkosten

Was die Kommentatoren der Eröffnungszeremonie ebenfalls verschwiegen, sind die unvorstellbaren sozialen Kosten, die die Umgestaltung der Stadt für die wenigen Wochen Olympia- Magie den Menschen in Peking abforderte. Die internationale Nichtregierungsorganisation „Centre on Housing Rights and Evictions“ ging 2007 in einem Bericht davon aus, dass während des Stadtumbaus für die Pekinger Olympiade 1,5 Millionen Menschen umgesiedelt wurden. Das städtebauliche Erbe der ersten chinesischen Olympiade ist somit auch ein beredtes Zeugnis dafür, was falsch läuft im heutigen China. Es bleibt zu hoffen, dass sich die von der neuen Führung angekündigte Abkehr vom Wachstum um jeden Preis positiv auf Stadtplanung und -entwicklung in China auswirken wird. Denn was Peking braucht, um eine wirkliche „World-Class City“ zu werden, sind keine glänzenden Fassaden, sondern eine menschenfreundlichere Politik.