31. März 2020

Poetisiert euch!

31.03.2020 — Berlin, Deutschland

nefiatin Elke Bredereck präsentiert einen Text zu Krise und Poesie von Nicole Andries.

Nicole und ich

Von Elke Bredereck

Alles begann mit Nudelsalat und einer Fete in Mecklenburg. Es muss um 1994 herum gewesen sein. Sie hatte ein Jahr in Pisa studiert, ich in Moskau.

Sie kommt vom westlichsten Rand Deutschlands, ihr Vater war Unternehmer wie schon seine Mutter und Großvater, sie ist in einem katholisch geprägten Dorf, in einem Elternhaus mit Französisch aufgewachsen.

Ich komme aus Halle Neustadt in Sachsen-Anhalt. Mein Vater war Chemiker in Buna, von Dienstreisen nach Leningrad brachte er konfety und Bücher mit. Ab 1988 ging ich in den evangelischen Schülerkreis, wir fuhren nach Prag und in die Tatra.

Nicole und mich verbindet die Liebe, nein der Zwang, zum Lesen, sie mag den „Brikla-Roman“ von Haratischwili, ich das „General“ Buch.

Ich habe sie im Krankenhaus besucht, als es ihr schlecht ging, ihre Küche aufgeräumt. Ihre roten Krücken nach der Meniskus-OP haben mich wieder gehen gelehrt. (Sie hat sie nie wieder abgeholt, sie lehnen verstaubt – mahnend, aufmunternd, verschlafen – in meiner Zimmerecke.)

Wir hatten phasenweise den gleichen Beruf und die gleichen Schüler*innen in unseren Deutschkursen an der VHS. Mit jugendlichen Migranten aus Tschetschenien  haben wir Phantasieräume besiedelt und zusammen mit ihnen poetisiert.

Gemeinsame Laufrunden im Humboldthain, Lektüren an Brandenburgischen Seen, weinseelige Nächte am Lagerfeuer… Auch Streit gab es, kurze Auszeiten.

Unser nächstes gemeinsames Ziel sollte eine Reise nach Pankissi in Georgien sein, in diesem Sommer. Ich wollte ihr ein paar einzelne Brocken Georgisch beibringen.

Wir machen uns manchmal lustig übereinander, sie über meine Aussprache in Englisch und Französisch. Über ihre Russisch-Grundkenntnisse muss ich schmunzeln.

Seit zwei Wochen kann ich nicht arbeiten und verdiene nix. Ich säe Cosmea aus und betrachte täglich andächtig die Erdklumpen. Ich habe Kochbücher aus dem Regal geholt, in die zu vertiefen mir früher nicht gelang. Ich koche mit großer Freude, meine Tochter lobt und isst.

Ihre Anwesenheit beruhigt mich. Ich beneide meine Freundinnen mit Häusern im Grünen. Ich gehe täglich mit einer Freundin in den Leisepark oder auf den Friedhof, sie singt mir ihren neusten Song und ich lese ihr Platonov vor. Ich denke an meine kleine Omi, die vor vier Jahren im Altersheim starb und mir in ihren letzten Lebensjahren ganz doll ans Herz gerückt ist.

Ich weiß nicht, wie es meinen Teilnehmer*innen aus dem Alpha-Kurs geht. Als ich das letzte Mal da war, am 12. März, fand der Unterricht mit zehn Leuten aus Eritrea, Georgien, Afghanistan, dem Irak, der Türkei, Syrien, Armenien, wie immer, im neonbeleuchteten Container statt. (Nebenan ist ein Näh-Zimmer für Frauen, es gibt Kinderbetreung und sehr engagierte Mitarbeiter*innen). Fleißig und motiviert waren sie, an diesem vorletzten Donnerstag, „Eu“ und „Qu“ waren an der Reihe, sie wiederholten eifrig im Chor: „Quark, Qua-drat, Eu-ro, Leute“.

Auf dem Gelände der Unterkunft fielen mir Anfang März kleine Hochbeete auf. Wenn sie jetzt nur darin buddelten, so wie ich.

Übrigens vertrug ich den Nudelsalat nicht, es endete schlimm, wir haben es beide nicht vergessen. Das erzählt Nicole immer gern, bis heute. Wenn sie mich vorstellt.

Wird Deutschland nun endlich zum Land der Dichter und Denker?

Von Nicole Andries

In der Krise steigen die vermeintlichen Nationalcharaktere wie Geister aus der Flasche. Die Italiener singen. Von ihren Balkonen und aus geöffneten Fenstern steigen Lieder, Scherze und Gelächter. Bei den Franzosen gehen die Kondome aus. Und die Deutschen? Sie hamstern Kartoffeln und Klopapier und suchen Helden!

“So geht Führung!” kommentiert Die Bild Merkels Auftritt in Zeiten von Corona und tönt weiter: “In einer solchen Krise braucht es eine starke Hand, die politischen Lager eint und klare Ansagen macht.”

Statt Führungsgeilheit und Wirtschaftsfixiertheit bevorzuge ich Poesie und Philosophie! “Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit,” konstatiert 1828 der Literaturhistoriker Wolfgang Menzel, den man als einen der Urheber jenes Epithetons von „Deutschland als dem Land der Dichter und Denker“ bezeichnet.

Und tatsächlich, herauskatapultiert aus den Mühlen des Alltags, eingesperrt zwischen die eigenen vier Wände, bricht sich gerade jetzt eine Kreativität Bahn, die ihresgleichen sucht.

Unter dem Hashtag #Corona Diary sendet eine infizierte deutsche Patientin ihr Update über Twitter in die Welt. Menschen in Quarantäne verschicken Fotos über ihre Kleidung, ihr Essen und ihren Zustand; Tageszeitungen traktieren uns mit austauschbaren Berichten von Menschen, die ihre Arbeit im Homeoffice mit Kinderbetreuung teilen.

Das Persönliche will mit dem Historischen verspiegelt werden.

Unter dem Motto „Poetisiert euch“ schreiben eingesperrte Abiturienten in ihren Instagram Stories Gedichte über ihre Befindlichkeit in Quarantäne, Online-Plattformen für kreatives Schreiben veröffentlichen Corona-Tagebücher; witzige Videos, die der Krise mit Humor trotzen, zirkulieren im Netz.

Das von oben verordnete Social Distancing heizt die Kommunikation auf allen Kanälen an.

Und die Kanzlerin? Sie fordert uns in ihrer Corona Ansprache auf, endlich wieder Briefe zu schreiben!

Wer sind wir und wie werden wir, wenn draußen der „Krieg gegen einen „unsichtbaren Feind“ (Macron) tobt? Die Lust am Ergründen des eigenen Zustandes; das Bedürfnis, die existenzielle Notwendigkeit nach Analyse des Selbst steigt im Angesicht einer historischen Krise – das zeigt die Flut an Tagebüchern und Briefen des ersten und zweiten Weltkrieges.

Die Erfahrungen und die Bewältigung, die jeder Einzelne mit dieser neuen, bisher nie dagewesenen Situation macht, drängen nach Teilung und darauf im Echoraum der Gesellschaft gehört zu werden.

„Wenn dereinst ein Bürger der kommenden Jahrhunderte auf den gegenwärtigen Zeitpunkt der deutschen Geschichte zurückblickt, so werden ihm mehr Bücher als Menschen vorkommen. […] Er wird sagen, wir haben geschlafen und in Büchern geträumt.“ So der Literaturhistoriker Menzel in seiner Geschichte über Die deutsche Literatur.

Hoffen wir auf viele traumhafte Bücher und auf Gesundheit.

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