8. Oktober 2021
Raus aus der Kampf-oder-Flucht Blockade
Ein Beitrag von Anna Reisch
„Transformation durch Realutopien.“
08.10.2021 — Berlin, Deutschland
Warum scheitern wir kollektiv an vielen Herausforderungen unserer Zeit? Anna Reisch erklärt, was dies mit unserem Nervensystem zu tun hat und warum sie Realutopien entwickelt.
Wohin auch immer wir aktuell blicken – weltweit sehen wir Krisen, Überforderung und dystopische Klimaszenarien. Die Komplexität der globalen Herausforderungen wirkt lähmend. Viele Menschen fühlen sich kaum mehr handlungsfähig. Wie bringen wir Lösungen auf den Weg, ohne von der Last der Aufgabe erdrückt zu werden?
Diese Frage beschäftigt mich seit Jahren und steht im Zentrum meiner Arbeit bei Reinventing Society. Unser Ansatz ist es, Menschen in ein „utopisches Mindset“ zu bringen, das uns hoffnungsvoll und handlungsfähig macht. Der Ausgangspunkt sind wir selber, als Privatpersonen und Weltenbürger, die jeden Tag Wirklichkeit kreieren und mitgestalten.
Ansetzen beim eigenen Nervensystem
Als Individuen sind wir genau dann motiviert und nachhaltig handlungsfähig, wenn wir wissen und auch körperlich spüren, wo wir hinwollen und warum. Dieser Mechanismus funktioniert über eine Kombination aus unserer mentalen Vorstellungskraft und bewussten Körperwahrnehmung: in welchem inneren Zustand bin ich aktuell, und wie soll sich mein innerer Zustand im Idealfall anfühlen? Wie kann ich die innere mit der äußeren Welt verbinden, um wirklich wirksam zu sein?
Aktuell sind viele Menschen mit Situationen konfrontiert, aus denen sie fortwollen — individuell und kollektiv: weg von einer Überforderung, die Angst macht und stresst. Raus aus der ökologischen Krise, fort von sozialen Spannungen, oder weg aus der Stadt. Unser Nervensystem ist im Stress, wir fürchten uns vor einer ungewissen Zukunft, und sind nicht handlungsfähig, sondern im „fight, flight or freeze“-Modus.
Damit ist die Antwort unseres Nervensystems auf äußere Stressfaktoren gemeint – wir bekämpfen eine Bedrohung, rennen vor ihr weg oder stellen uns tot. Dieser Mechanismus hat uns Menschen gute Dienste geleistet, beispielsweise als wir vor gefährlichen Tieren fliehen mussten.
Die Ausschüttung von Stresshormonen können wir jedoch schlecht steuern, so dass wir selbst in unserem heutigen – relativ sicheren – Alltag auf Konflikte mit Kolleg*innen, Straßenlärm und Zukunftssorgen mit derselben Intensität reagieren wie auf ein gefährliches Tier. Oft kommt unser Nervensystem nach der Aktivierung nicht wieder zur Ruhe. Ein dauerhaft aktiviertes Nervensystem unterdrückt unsere Kreativität und wir sind in einer permanenten Negativ-Schleife gefangen.
Realutopien bauen
Um solche Blockaden zu lösen, hilft es, sich eine Zukunft vorzustellen, in der wir als Gesellschaft unser höchstes Potential entfalten. Dies erlaubt uns, einen inneren Anker in diese Welt zu werfen. Wir können dann unser Handeln danach ausrichten. Solche positiven Szenarien setzen große Energie und Motivation frei, um sich dieser idealen Vision auch anzunähern. Wir bezeichnen diese Ausrichtung auf das höchste Potential als „utopisches Mindset“.
Um ins utopische Mindset zu gelangen, fragen wir uns: was ist die Lebensqualität, die wir uns aus tiefstem Herzen wünschen? Wie fühlt es sich an, uns selbst zu verwirklichen? Wie sieht eine Welt aus, in der Menschen das tun, was im Einklang mit ihren Werten, Bedürfnissen und Fähigkeiten steht? Wie fühlt es sich an, mit der Natur zu leben und nicht gegen sie? Und: Welche Verhaltensänderungen kann ich bereits hier und jetzt vornehmen, um die vermeintlich utopische Zukunft in die Gegenwart zu holen?
Innere Arbeit, die mit Gefühlen verbunden ist, wird oft tabuisiert und als unwichtig abgetan. In meiner Erfahrung ist diese jedoch von zentraler Bedeutung für Transformation: Nur wenn wir unsere Psyche und biochemischen Automatismen kennen und verstehen, können wir nachhaltigen Wandel auf institutioneller und gesellschaftlicher Ebene gestalten.
Bei Reinventing Society arbeiten wir daher mit zwei zentralen Konzepten:
- Ebenenkongruenz: Das Innere und Äußere sind untrennbar verbunden. Transformation von Organisationen und Gesellschaften ist nur möglich, wenn sich Individuen verändern — und umgekehrt. Deshalb braucht es für gesellschaftlichen Wandel Menschen, die sich mit ihrem eigenen Nervensystem auseinandersetzen und die eigenen Gefühle zu regulieren lernen (beispielsweise mit Praktiken wie Mindfulness oder Meditation).
- Pfadkongruenz: Es gibt keinen Weg in die Utopie — die Utopie ist der Weg. Nur wenn wir die Prinzipien und Qualitäten der Utopie bereits im Hier und Jetzt realisieren, kommen wir weiter. Mit Ärger, Stress und isoliertem Denken erreichen wir keine Transformation.
Transformation erfordert Verletzlichkeit
In der Regel haben wir Angst, für derartige Visionen belächelt zu werden (“Du spinnst! Das ist doch nicht realistisch!”) oder bei der Umsetzung zu scheitern. Wir trainieren uns ab, zu träumen. Hinter dieser Angst steckt der verständliche Reflex, nicht verletzt werden zu wollen.
Allerdings werden wir als Gesellschaft keine neuen Wege finden, wenn sich nicht einige von uns getrauen, dieses Risiko einzugehen. Wir müssen uns wagen, verletzlich zu sein, uns unsere Überforderung einzugestehen. Die Systemtheoretikerin Donella Meadows identifizierte schon in den 1970er-Jahren die oft unbewussten Paradigmen und Mindsets, die Gesellschaftsstrukturen prägen, als wichtigsten Hebel für Wandel. Daher müssen wir uns fragen: Wo wollen wir miteinander hin? Wie gehen wir auf dem Weg dorthin miteinander um?
Authentizität und Empathie, sich selbst und anderen Menschen gegenüber, ist in meinen Augen ein entscheidendes Skill für die Zukunft. Ebenso wichtig ist Arbeit mit Meditation oder anderen Methoden, die darauf abzielen, unser Wissen ins autonome Nervensystem zu integrieren. Ein utopisches Mindset, welches uns aus der Kampf-oder-Flucht Blockade der aktuellen multiplen Krisen herausbringt und Lust auf Veränderung macht, ist ein wirkungsmächtiges Instrument für gesellschaftlichen Wandel, der immer zuerst bei uns selbst beginnt.
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