Das Virus als Chance
Gemeinsam durch die Krise: Die ad hoc international publiziert Pandemie-Erfahrungen aus dem Netzwerk
20. März 2017
Ein Beitrag von Daphne Büllesbach
Historischer Fortschritt auf unserem Kontinent geht spätestens seit dem Mittelalter aus der Entwicklung des urbanen Raumes hervor. Im Prozess der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Transformation sind Städte zugleich Bühne und Hauptakteure: Neue Formen der Produktions- und Arbeitsorganisation oder die zunehmende Finanzkapitalisierung, die sich in der Nutzung von Grundstücken und Immobilien als Spekulationsobjekte äußert, sind wesentlich städtische Phänomene. Diese Prozesse lösen neue Widersprüche und Ungleichgewichte aus – und machen die Städte so auch zu Orten des Widerstands sowie von Innovation.
Die Europäische Kommission betonte vor kurzem die führende Rolle von Städten und Metropolregionen und die Notwendigkeit für deren stärkere Koordination und Austausch untereinander. Mehr als 70 Prozent der Europäer*innen leben im städtischen Raum. Hier konzentrieren sich drei Viertel des Energieverbrauchs und 80 Prozent der Emissionen. Städte sind dadurch auch zentral für eine globale Strategie hin zu Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit.
Städte können leicht zu Orten politischer Innovation oder Räume der tatsächlichen Neubelebung der Demokratie werden, indem sie ihre relative Nähe zu den Bürger*innen nutzen. Antworten auf die großen Herausforderungen unserer gegenwärtigen Welt finden häufig ihren Ursprung im Lokalen. Auf Ebene der Europäischen Union (EU) haben bisher weder die Institutionen noch die Nationalstaaten den Übergang in eine Welt der grenzüberschreitenden Herausforderungen vollzogen. Gerade in diesem Kontext können Städte – wie es bereits in entscheidenden Momenten des Übergangs in der europäischen Geschichte der Fall war – eine führende Rolle einnehmen. Doch auch die regionalen und supranationalen Institutionen müssen ihren Beitrag bei der Suche nach globalen Lösungen leisten.
Die „Regierungen des Wandels“
Im Moment tritt eine lange „kommunale“ Tradition wieder in den Vordergrund, die in den Erfahrungen der neuen Regierungen „des Wandels“ (cities of change) aufzuleben scheint. Die spanischen „plataformas ciudadanas“ – Bürgerplattformen – gingen aus der Protestbewegung der 15M hervor. Sie füllten die Plätze der Iberischen Halbinsel ab 2011 übernahmen in den Kommunalwahlen im Mai 2015 in bedeutenden Städten die Macht, allen voran Ada Colau als Bürgermeisterin von Barcelona. Diese neuen Stadtregierungen in Spanien sind eine der wichtigsten Errungenschaften in den städtischen Kämpfen für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Nach nur zwei Jahren im Amt haben sie wichtige Innovationen eingeführt. Sie konzentrieren sich darauf, die Transparenz zu stärken und zur direkten Beteiligung der Bürger*innen an städtischen Entscheidungsprozessen zurückzukehren, etwa mit der digitalen Plattform Decide Madrid. Die Stadträt*innen stellen mehr Ressourcen für sozialpolitische Initiativen zur Verfügung, sie intervenieren in der Stadtplanung und initiieren eine Wohnungspolitik, die einkommensschwache Einwohner*innen begünstigt. Es wurden Programme eingerichtet, die eine gerechtere und integrative Sozialwirtschaft unterstützen, indem öffentliche Ausschreibungen und Beschaffungsregeln an Kriterien des Gemeinwohls ausgerichtet werden.
Zufluchtsorte
Auch auf einem anderen Gebiet zeigen Städte eine progressive Handlungsoption auf: Einige wollen – im Gegensatz zur aktuellen Haltung der meisten EU-Länder – Flüchtlinge aufnehmen. Sie fordern deutlich dazu auf, über die Debatte des „Mangels an Solidarität“ seitens der Nationalstaaten hinauszugehen und es nicht bei den gerade mal 9.000 „umverteilten“ Flüchtlingen aus der Türkei und Griechenland zu belassen – und sie treten aktiv für diese Solidarität ein.
Danzig, Grenoble, Neapel und Thessaloniki sind weitere Beispiele für Kommunen, die sich als „Städte der Zuflucht“ präsentieren, sei es aus humanistischen, demographischen oder wirtschaftlichen Motiven heraus. Gesine Schwan knüpft an diesen Willen der Städte mit einer spannenden Initiative für eine alternative EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik an: Ihre Idee ist ein Finanzierungsinstrument, das von der supranationalen Ebene, also der Europäischen Kommission, direkt Städte bei der nachhaltigen Integration von Flüchtlingen unterstützt.
Jenseits der Nationalstaaten
„Wir, die Städte, haben das Wissen, den Wert der Nähe und die Kraft der kollektiven Intelligenz um die globalen Probleme zu lösen“ sagten Colau, Carmena und Hidalgo, die Bürgermeisterinnen von Barcelona, Madrid und Paris, auf der UN-Konferenz Habitat III vergangenen Jahres in Quito. Ziel der drei engagierten Frauen ist es, finanzielle Ressourcen und Entscheidungsgewalt verstärkt in die Hände der Städte zu geben. So werden die Nationalstaaten dabei unterstützt, Herausforderungen wie wachsende soziale Ungleichheit, die Bedrohung durch den Klimawandel und die Aufnahme von Geflüchteten anzupacken.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass wir heute von „Rebellenstädten“ sprechen – wie es der Polit-Ökonom David Harvey tut: Alternative Regierungspolitik auf lokaler Ebene zeigt nicht nur für Südeuropa einen möglichen Weg gegen soziale Prekarisierung.