1. März 2012

Tunesische Wutbürger

28.2.2012
Heute ist arabischer Frühlingsbeginn, erzählt mir unser Fahrer, auf dem Weg zurück vom UNCT Retreat. Auf Richtigkeit überprüfen kann ich das nicht auf Anhieb, da Google bei „Arab Spring“ seit letztem Jahr andere Ergebnisse als das Gesuchte liefert. Aber der Taxifahrer am Abend bestätigt mir dies auf Nachfrage, und fügt hinzu, man wünsche den anderen an diesem Tag Glück. Gleich darauf fragt er mich, wie ich mich denn in Tunesien nach der Revolution so fühle.

Die Revolution und die Folgen durchdringen die Gespräche, die Medien, die Politik, die Atmosphäre. Die Tunesier sind auf Geschmack gekommen, oder vielleicht sind sie auch einfach nur frustriert. So vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neu für oder gegen etwas oder jemanden demonstriert wird und neue Allianzen geschmiedet oder verworfen werden. Unzufriedenheit liegt in der Luft: die Übergangsregierung, die nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung (23.10.2011) Ende Dezember aus einer Koalition aus drei Parteien (die stärkste davon die islamische Partei Ennahda, die alle wichtigen Ministerposten stellt) gebildet wurde, muss Arbeitsplätze schaffen, die Korruption eindämmen, das Regime aufarbeiten. Der Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen Tunesiens, ist um 50% der Einnahmen vor der Revolution zurückgegangen und die Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und Säkularen tun ihr Übriges, um den Trend nicht schnell mal eben umzukehren. Die Arbeitslosigkeit liegt inzwischen bei 19% und damit gut 6 Prozentpunkte über dem Wert vor dem 14.1.2011, als Machthaber Ben Ali mit seiner Entourage nach Saudi Arabien floh. Aufgrund der instabilen Lage (oder einfach nur wegen der globalen Wirtschaftskrise?) haben 70 bis 130 Firmen das Land verlassen.

Nicht nur Firmen haben dem Land den Rücken gekehrt. Die letzten Schätzungen des UNHCR, wo ich hier meine zweite Stage im Rahmen des Mercator Kollegs verbringe, belegen, dass rund die Hälfte der rund 56,000 Flüchtlinge und Migranten („mixed migration“), die sich in Booten auf den Weg nach Europa machten, Tunesier waren.

Neben dem Kampf um Arbeitsplätze und eine Perspektive wird mittlerweile auch um Freiheit, v.a die der Presse und die der (Nicht-)Religionsausübung gerungen. Hohe Wellen schlug z.B. die Veröffentlichung eines Fotos des deutschen-tunesischen Nationalspieles Sami Khedira mit seiner unbekleideten Freundin Lena Gercke, Gewinnerin der 1. Staffel Germany’s Next Top Model, auf dem Titelblatt der arabisch-sprachigen Zeitung Attounissia (in Deutschland Coverbild der GQ). Der Chefredakteur Nasreddine Ben Saïda sowie zwei weitere Journalisten der Zeitung wurden festgenommen. Das Urteil gegen den Herausgeber Ben Saïda soll am 8. März fallen, schlimmstenfalls drohen bis zu fünf Jahren Haft. Aufgrund von Morddrohungen musste die Redaktion der Zeitung bewacht werden. Ähnliche Probleme hatte es im Oktober gegeben, als ein Fernsehsender den prämierten iranischen Zeichentrickfilm Persepolis ausstrahlte. Der Prozess im Januar zog mehrere Protestwellen und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Pressefreiheit und radikalen Islamisten nach sich.

Zurück zur Arbeit im Vorort Berges du Lac, der in den 1990ern von den Saudis auf einem trockengelegten Sumpf gebaut wurde und wo auf 25 Jahre der Ausschank von Alkohol verboten ist. Wir schlängeln uns um Pflastersteine, Betonmischmaschine, Resten des alten Gartens und Müll (es wird für unbefristete Verträge gestreikt) zur Villa, in der die tunesische Repräsentanz von UNHCR Mitte Dezember das Büro bezogen hat. Wie das alles bis zum Besuch des Hochkommissars für Flüchtlinge António Guterres am nächsten Montag, der die neue Regierung und führende Ennahda-Politiker kennenlernen möchte, fertig werden soll, ist mir ein Rätsel. Der Stresspegel wäre jedoch auch ohne seinen Besuch hoch genug: mit Schlagbohrerlärm lässt sich nicht so gut das aktuelle Country Briefing fertigstellen, welches die Repräsentantin für das MENA-Treffen im UNHCR-Sitz in Genf braucht. In Kombination mit dem ungewöhnlich kalten Februar (Schneefälle im Nordwesten, frierende Shousha-Camp-Flüchtlinge im Süden) komme ich inzwischen auch um einen Arztbesuch nicht mehr herum (Honorar 40 Dinar bar auf die Hand).

Der Kontrast zu meiner vorigen Stage bei Frontex könnte in vielerlei Hinsicht kaum größer sein: im Rondo 1, dem Wolkenkratzer im Herzen Warschaus, wo die EU-Agentur für Grenzschutzkoordinierung sitzt, untersuchte ein Augenscanner meine Pupillen und die Mantrap mein Gewicht, bevor ich Zugang zu den Frontex-Stockwerken bekam. Das größte Hindernis hier in Tunesien stellen die klemmenden Türen dar, bei denen kein Schlüssel, sondern am besten ein kräftiger Fußtritt hilft. Improvisieren ist an der Tagesordnung. Unsere Schreibtische sind kreuz und quer über die Villa verteilt, die Handwerker kappen auch mal den Strom, ohne uns zu informieren, wir sollten doch mal kurz zwischenspeichern. Eigentümlich auch die Vorbereitung des Besuchs des Hochkommissars: Unsere Fahrer stellen jede Einladung zum Empfang im Sheraton einzeln zu. Erstaunlicherweise läuft das dann, nachdem ich einmal alle Adressaten ausfindig gemacht habe, geordneter ab als gedacht (die Fahrer ordnen die Botschaften, NGOs und UN-Agenturen nach Stadtvierteln).

Nach dem Besuch wird vielleicht etwas Ruhe einkehren, so dass ich endlich Zeit für meine überfällige Security Clearance habe. Auch die Evaluierung, wie die UN-Agenturen in der Libyen-Krise in Südtunesien unter der Koordinierung des UNHCR Tunesien, zusammengearbeitet haben, ist nahezu abgeschlossen und kann bald dem Resident Coordinator vorgelegt werden. Beim zweitägigen Treffen des UN Country Teams (UNCT Retreat) sollten Lehren aus der Emergency Response gezogen und der Fahrplan für die Stratégie de Transition en Tunisie festgelegt werden.

Zum Schluss noch der Link zu einem Video, welches einen der Schwerpunkte der Arbeit von UNHCR Tunesien in diesem Jahr auf den Punkt bringt: Umsiedlung (Resettlement) der Schutzbedürftigen, die in der Libyenkrise nach Tunesien geflohen sind und dort im Übergangslager Shousha auf eine dauerhafte Lösung hoffen: auch Deutschland überlegt, ein paar Flüchtlinge aufzunehmen, nachdem auf Beschluss der IMK ab 2012 jährlich etwa 300 Flüchtlinge nach Deutschland umgesiedelt werden sollen:

Video „A Life on Hold: the story of a Somali teenage refugee“