10. September 2022

“Twitter ist der schlechteste Ort, um die Blase zu durchbrechen”

10.09.2022 — Berlin, Deutschland

Moritz Gathmann berichtet für das Magazin Cicero aus der Ukraine. Er ist ein großer Kenner der Region und lebte mehrere Jahre in Russland. Die Invasion und Brutalität der russischen Armee schockierten ihn. Ein Gespräch über das tägliche Ringen darum, ein objektives Bild zu schaffen in einer Situation, in der Gut und Böse von vornherein feststehen.

Moritz Gathmann, Chefreporter von Cicero. Bild: ZVG.

Moritz, antizipierst du den Shitstorm, wenn du schreibst? Du hast auch schon Gegenwind bekommen, wenn du russische Positionen dargestellt hast.

Es ist schon richtig, dass man sich eher über Beifall freut, besonders in diesem Krieg. Da ist man eher gewillt, auf der Welle weiter zu schwimmen, als über ukrainische Kriegsverbrechen zu schreiben. Aber eigentlich gehe ich dem Problem nicht aus dem Weg.

Auch wenn ich persönlich Waffenlieferungen und lang anhaltende Solidarität mit der Ukraine klar befürworte, habe ich aufgrund meiner Geschichte nicht eine knallharte pro-Ukraine-Blase — auf Facebook zum Beispiel. Da sind auch viele Russen dabei und Leute, die das alles differenziert sehen.

Gelingt es dir, an ein objektives Bild zu kommen?

Im Prinzip bekomme ich mehrere sehr subjektive Bilder und es ist dann meine Aufgabe, die Glaubwürdigkeit der Akteure einzuschätzen und mir daraus ein Bild zu formen.

Das ist auch bei Kriegsverbrechen so. Es wird nicht alles gefilmt, was getan wird. Es passiert viel mehr Schlimmes, als wir sehen. Da ist es wichtig, die Kanäle beider Seiten zu lesen. Weil man über die Kriegsverbrechen ukrainischer Soldaten auf den üblichen westlichen Plattformen relativ wenig erfahren wird.

Ich muss Kanäle lesen, die mir persönlich nicht passen, zum Beispiel solche, die von russischen Nationalisten betrieben werden. Quelle ist Quelle, egal, ob sie aus dem Führer-Hauptquartier kommt oder nicht.

Wo findest du diese Informationen?

Twitter ist der schlechteste Ort, um die Blase zu durchbrechen. Viele Akteure, die nicht unsere Sicht der Dinge teilen, sind dort nicht unterwegs.

Für mich ist vor allem Telegram wichtig, weil ich da russische Kriegskorrespondenten finde und russische Nationalisten — auch solche, die zwar für den Krieg sind, aber die russische Kriegsführung hart kritisieren, mit sehr konkreten Beispielen, was wo passiert. Um ein Verständnis dafür zu bekommen, wie die Situation an der Front ist und die Stimmung unter den Soldaten, ist es enorm wichtig, von beiden Seiten diese Telegram-Kanäle zu lesen.

Abgesehen davon sind persönliche Kontakte entscheidend. Ein Soldat, der im Februar als Freiwilliger in die ukrainische Armee ging, hat mir privat Dinge geschrieben, die er momentan nicht öffentlich sagen würde, weil er eben nicht die Feind-Propaganda stärken will. Aber so komme ich dann an ein einigermassen objektives Bild.

Ist dir dieses Streben nach Objektivität zuwider?

Ich glaube, man muss sich selbst in den Hintern treten, dass man auch über Themen schreibt, die nicht ins gängige Narrativ von Gut und Böse passen. Zum Beispiel darüber, was eigentlich in diesen “Volksrepubliken” los ist. Natürlich, aus ukrainisch-offizieller Sicht sind die da alle geknechtet und warten darauf, befreit und wieder Teil der Ukraine zu werden, aber so einfach ist es nicht.

Die Leute haben sich schon eingerichtet im Alltag und sind auch seit acht Jahren unter starkem Einfluss russischer Propaganda. Das wird nicht leicht, wenn es einmal soweit kommen sollte, die wieder in die Ukraine einzugliedern.

Es ist sehr schwer, etwas über die Situation in den besetzten Gebieten in Erfahrung zu bringen, aber man muss auch darüber berichten. Am Ende muss ich als Journalist aus der Komfortzone raus. 2014 konnte ich da einfach hinfahren, jetzt ist es natürlich anders. Da merke ich selber, dass ich mich pushen muss.

Gehen wir mal von diesem Extremfall eines Kriegsverbrechens auf ukrainischer Seite aus: Gibt es da eine redaktionelle Abwägung, etwas nicht zu schreiben, weil das nicht die “richtige” Message ist?

Aus der Redaktion gibt es bei mir keinen Einfluss. Möglicherweise gibt es eine Schere im Kopf. Man ist schon emotional beeinflusst, wenn man in der Ukraine unterwegs ist, gerade in den ersten Kriegsmonaten. Das ist einfach eine sehr klare Angelegenheit — das Land wurde überfallen von Russland.

Wenn ich mir sicher war, dass ein Hinweis auf ukrainische Verbrechen authentisch ist, dann habe ich auch darüber geschrieben. Vielleicht nicht so oft in meinen Texten, aber auf Facebook und Twitter habe ich mich bemüht. Da bin ich auch nicht der einzige. Julian Röpcke von der Bild-Zeitung, zum Beispiel, der ist natürlich knallhart auf der Seite der Ukrainer, aber der hat auch immer wieder über diese Videos geschrieben, auf denen ukrainische Kriegsverbrechen zu sehen sind.

Es geht um die Glaubwürdigkeit: Wenn du das immer ausblendest, dann vertrauen dir am Ende jene nicht mehr, die auch andere Quellen lesen. 

Stéphane Siohan, der Korrespondent von La Libération in Kiew zitierte in einer Reportage aus Odessa einen Einwohner, der sich am meisten vor Leuten fürchtet, die ihre Stadt so sehr lieben, dass sie alles tun würden, um ihre Häuser zu retten — und darum zu Kompromissen bereit sind. Es geht um mangelndes Vertrauen in die Armee und die Bereitschaft zu einem schnellen Frieden. Darüber hört man wenig, weshalb?

In Kiew und anderen Städten habe ich diesen Standpunkt nicht so wahrgenommen. Aber in Kharkiv habe ich auch immer wieder mit Leuten gesprochen, die eigentlich pro-russisch eingestellt sind. Die meinten, Putin habe es zwar falsch angestellt, aber sie seien eigentlich bereit, Teil von Russland zu werden. Das kam in meinen Texten dann auch vor.

Aber es ist interessant, dass du sagst, dass dieser Punkt kaum in der Berichterstattung erscheint. Das wird unter Kollegen schon thematisiert, auch in den sozialen Netzwerken.

Können sich die Leute frei äussern, wenn sie nicht die offizielle ukrainische Linie vertreten oder fürchten sie, als Agenten Russlands taxiert zu werden?

Die Leute sind nicht angstfrei und jene, die sich offen äussern, sind die Ausnahme. Vielleicht sprechen sie, wenn du länger oder über bestimmte Codes mit ihnen redest. Die Frage betrifft aber auch eher ältere Einwohner. Die Generation bis 40 ist schon klar pro-ukrainisch.

Wie gehst du damit um, wenn deine eigene Sichtweise widerlegt wird?

Beim Thema Ukraine war das natürlich schon eine schmerzhafte Erfahrung. Es bedeutete, mich selbst sehr stark zu hinterfragen.

Ich hatte mir trotz aller Fehlentwicklungen in Russland nicht vorstellen können, dass es gegen sein Nachbarland einen Krieg anzettelt. Putins Argument war immer die wirtschaftliche Stabilität gewesen. Und dass er das alles aufs Spiel setzt für den grossen imperialen Traum konnte ich mir nicht vorstellen. Das war ein grundlegender Irrtum.

Ich glaube, ich hatte mir auch immer eingeredet, dass die Russen da nicht mitziehen würden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Propaganda im Fernsehen so stark wirkt — von den Jüngeren hat das ja niemand geguckt, auch niemand von meinen russischen Freunden. Aber die Generation 50-Plus scheint praktisch verloren in Russland.

Das ist schon eine sehr bittere Erkenntnis über den eigenen Irrtum, auch auf der menschlichen Ebene. Über die eigene Naivität, vielleicht. Offenbar war meine Vorstellungskraft doch begrenzt, oder ich habe sie selber begrenzt.

Wie sehr hat dieser Irrtum deine Arbeit beeinflusst? Mich persönlich hat es sehr verunsichert, nicht nur bei diesem Thema. Ich bin generell demütiger geworden.

Ja, ich hinterfrage nun Dinge, die ich vorher als klar empfand. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass nicht alles auszuschliessen ist, das ich mir in diesem Moment nicht vorstellen kann. Es passieren Dinge, die nicht vorstellbar sind.

Ein Punkt betrifft die Rolle von Militär und militärischer Durchschlagkraft. Da musste ich meine Vorstellung erweitern. Dass es eben doch am Ende Situationen gibt, in denen es wichtig ist, dass man militärisch überlegen ist. So wie es die Amerikaner sind. In Deutschland war es über die Parteien hinweg in den letzten Jahrzehnten immer klar, dass wir nicht weitere 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr brauchen.

Jetzt gilt Realität statt Ideologie.

Was braucht es, um nicht einfach in eine neue Ideologie abzutauchen?

Ich würde sagen: Lies auch das, was dir eigentlich nicht passt. Lies auch das, was wehtut. Du wirst davon nicht kontaminiert.

Wir glauben immer das, was wir glauben wollen. In Russland haben die Leute die Möglichkeit, Informationskanäle jenseits der Propaganda zu gucken. Der Zugang ist nicht das Problem. Aber sie nehmen das auf, was ihr Weltbild stabilisiert. Wenn jetzt die Deutsche Welle kommt und ihnen über russische Kriegsverbrechen in Butscha erzählt, dann blenden sie das aus. Weil ihr Weltbild sonst zersplittern würde.

So gesehen ist es sehr schwer, aus der eigenen Blase zu kommen. Man muss das schon wollen und sich diese Mühe machen. Die eigene Gedankenwelt zu erweitern.

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