1. Oktober 2016

Ukraine-Konflikt: Ohne die OSZE geht es nicht

Mitarbeiterder OSZE-Beobachtungsmission in der Ostukraine // © OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine/Flickr

Seit dem Beginn der Ukraine-Krise 2014 erlebt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine politische Wiedergeburt. Nach den Balkan-Kriegen der Neunziger Jahre weitgehend in Vergessenheit geraten, ist die Organisation heute zentraler Beobachter und Vermittler im Ostukraine-Konflikt. Mit 57 Teilnehmerstaaten zwischen Vancouver und Wladiwostok ist die OSZE die weltweit größte regionale Sicher-heitsorganisation. Sie ist nicht perfekt und weder Ersatz noch Konkurrenz zu EU und NATO. Wie der OSZE-Vorsitz Deutschlands in diesem Jahr aber unterstreicht: Für Frieden und Sicherheit im euro-atlantischen Raum ist die OSZE unverzichtbar.

Einsatzbereit in 24 Stunden. Als der Beschluss, eine OSZE- Sonderbeobachtungsmission in die Ukraine zu entsenden, am 21. März 2014 in der Wiener Hofburg fiel, traf ein erstes Vorausteam schon am nächsten Tag vor Ort ein. Im fernen Cambridge (Massachusetts) hatte zu diesem Zeitpunkt die Spring Break an der Harvard Kennedy School begonnen, wo ich zu diesem Zeitpunkt studierte – eine kleine Verschnaufpause, auf die ich mich schon länger gefreut hatte. Kurz darauf saß auch ich im Flieger nach Kiew. Als Mitglied im Expertenpool des Zentrums für internationale Friedenseinsätze (ZIF) sollte ich mit einer kleinen multinationalen Beobachtergruppe die Vorbereitungen zur Stationierung einer Mission leiten. Mein Einsatzort: die ostukrainische Millionenstadt Charkiw.

Die Aufgaben in den frühen Monaten der sich zuspitzenden Ukraine-Krise waren vielseitig : Büroräume und lokales Personal finden, außerdem gepanzerte Geländewagen, Funkgeräte, Sicherheitswesten und Helme anschaffen. Wir analysierten das Einsatzgebiet und etablierten Kontakte zu Gesprächspartnern auf beiden Seiten des Konflikts. Wöchentlich vergrößerte sich mein Team – im ersten Monat von vier auf 60 Beobachter. Auch nach Donezk und Lugansk wurden viele weitere OSZE-Mitarbeiter entsandt. 

Die Sicherheitslage war prekär, nicht zuletzt für uns zivile Beobachter. Was mit der Krim-Annexion, pro-russischen Demonst- rationen und der Besetzung von Verwaltungsgebäuden im Osten begann, entwickelte sich bis zum Sommer 2014 in einen offenen Krieg. Gebannt schaute die deutsche Öffentlichkeit nach Slowjansk als bereits im April Bundeswehr-Soldaten in Geiselhaft gerieten und OSZE-Vermittler an deren Freilassung maßgeblich mitwirkten. Nach der Tragödie um Flug MH17 im Juli herrschte weltweit Fassungslosigkeit. Als OSZE-Beobachter verhandelten wir den sicheren Zugang der internationalen Ermittler zur Unglücksstelle und unterstützten den Transport der Todesopfer aus dem Konfliktgebiet.

Zwei Jahre nach Einsatzbeginn ist aus den je vierköpfigen Beobachterteams in den großen ostukrainischen Städten eine Mission von knapp 800 internationalen und 300 lokalen Mitarbeitern geworden. Die täglichen und wöchentlichen Berichte der Beobachterteams liefern der internationalen Gemeinschaft ausführliche und objektive Informationen zur Lage vor Ort. Sie bilden eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen und unterstützen die Hauptstädte, die Vereinten Nationen (VN), EU und NATO in ihren Bemühungen zur Lösung des Ukraine-Konflikts.

Die Ukraine ist dennoch nicht der einzige Brandherd, der die Organisation derzeit auf Trab hält: Es stehen auch die Konflikte um Bergkarabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien, die Terrorismusbekämpfung, gute Regierungsführung sowie die bessere Umsetzung der Verpflichtungen aller OSZE-Staaten zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt.

Dies ist eine volle Agenda für Deutschland, welches 2016 den Vorsitz in der OSZE führt. Unter dem Motto „Dialog erneuern, Vertrauen neu aufbauen, Sicherheit wieder herstellen“ sitzt Außenminister Steinmeier der Organisation in schwierigen Zeiten vor. Zur Umsetzung ihrer Agenda steht der OSZE ein umfassender und oft wenig bekannter Instrumentenkasten zur Verfügung. 17 Feldmissionen im Balkan, Osteuropa, Südkaukasus und Zentralasien, starke unabhängige Institutionen zur Förderung von Menschenrechten und demokratischen Institutionen, Medienfreiheit und dem Schutz nationaler Minderheiten in Warschau, Wien und Den Haag, die Parlamentarischen Versammlung der OSZE in Kopenhagen oder das OSZE-Sekretariat.

Die OSZE ist eine große Familie, welche mit 57 Teilnehmerstaaten aufgrund der Konsensregel nicht immer die schnellste Organisation ist. Ihre operativen Fähigkeiten müssen daher zweifelsohne gestärkt werden. Sind sich die Staaten jedoch, wie im Fall der Ukraine-Mission, einig, dann tragen Beschlüsse der OSZE einen hohen normativen Wert.

Nebst EU und NATO etwas in Vergessenheit geraten, stellte die Ukraine-Krise die OSZE, als einzigen von allen Konfliktparteien als neutral anerkannten Akteur, wieder in den Mittelpunkt: EU und NATO von Russland als befangen betrachtet, die VN blockiert im Sicherheitsrat. Für eben solche längst vergessen geglaubte Konflikte auf europäischem Boden wird die OSZE benötigt. 

Für den Dialog auf Augenhöhe mit Russland, für gezielte vertrauensbildende Maßnahmen im politisch-militärischen Bereich braucht es eine Organisation, in der Moskau gleichberechtigtes Mitglied ist. Damit erfüllt die OSZE eine Funktion, welche über die Ukraine-Krise hinausgeht. Als Dialogplattform in der nicht nur die euro-atlantischen Partner, sondern auch alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion an einem Tisch sitzen, bietet sie einen einzigartigen Treffpunkt für Debatten zu Sicherheit und Stabilität in Europa.

Die Arbeit in den ersten sechs Monaten der Ukraine-Mission war selten einfach: Wir überwachten Gefangenenaustausche, besuchten die Notunterkünfte der hunderttausenden Binnenvertriebenen, berichteten zu öffentlichen Kundgebungen und sprachen mit pro-russischen Aktivisten in ukrainischen Hochsicherheitsgefängnissen. Wir erlebten, wie OSZE-Beobachter für mehrere Wochen entführt wurden und wie unsere Patrouillen wiederholt unter direkten und indirekten Beschuss kamen. Dennoch zeigt sich heute trotz der weiter ausstehenden politischen Lösung des Konflikts: Keine andere Organisation hätte europäisches, inklusives Krisenmanagement so leisten können wie die OSZE. Die Arbeit der Beobachter macht einen spürbaren Unterschied vor Ort. Und das ist ein gutes Gefühl.