3. Februar 2013

Urbanisierung weltweit: Von Megastädten und Hüttenmetropolen

2030 werden 60 % der Weltbevölkerung in Städten leben. Urbani­sierung ist einer der Megatrends unserer Zeit. Aber wie sieht Urbanisierung in verschiedenen Weltregionen und in verschiedenen sozialen Kontexten eigentlich aus? Was verbindet Städte wie Mexiko­ Stadt, Jakarta, Moskau und El Fasher in Nord Darfur? Kollegiatinnen und Kollegiaten illustrieren am Beispiel „ihrer“ Städte die größten Herausforderungen der Urbanisierung.

Sebastian Haug lebt in Mexiko­ Stadt und arbeitet für die Vereinten Nationen. Er fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit – das wäre vor zwanzig Jahren noch undenkbar gewesen. Mexiko­ Stadt galt als eine der schmutzigsten Megastädte der Welt. Das hat sich geändert: Das U­ Bahn­ System wurde ausgebaut und ein Fahrradleihsystem eingerichtet. Sonntags wird sogar eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, der Paseo de la Reforma, für Autos gesperrt. Mexiko­ Stadt ist für Sebastian eine Erholung, nachdem er zuvor in Peking gelebt und erfahren hat, wie es sich anfühlt, nicht frei atmen zu können.

Können Städtebauer den perfekten sozialen Raum kreieren?

Januar 2013. In Peking muss der Luftverschmutzungsindex, der den Feinstaubgehalt der Luft misst, erweitert werden. Während die bisherige Skala nur bis 500 reicht, misst die US­ Botschaft einen Wert von knapp 900. Sebastian sieht die Gründe für die extremen Werte in einem Zusammenspiel der zuneh­menden Motorisierung, der schlechten Qualität des Benzins und nicht zuletzt Pekings Industrieanlagen. Trotzdem gibt es im grauen Wust der chinesischen Hauptstadt Beispiele für faszi­nierendes urbanes Leben. Abends versammeln sich an Straßen­ecken und Plätzen kleine Gruppen, die zu Kofferradiomusik Choreographien tanzen. Sie erobern sich damit den öffentlichen Raum zurück in einer Stadt, die in vielerlei Hinsicht die Attrakti­vität des urbanen Lebens in Frage stellt.

Das wirft eine interessante Frage auf: Wie viel soll, muss und darf eigentlich geplant werden in einer Stadt? Können Städte­bauer den perfekten sozialen Raum kreieren?

Zumindest in der Sowjetunion war man davon überzeugt. Moskaus berühmter Gorki Park ist so ein Beispiel. Liana Fix wohnt nur einen Steinwurf entfernt. Im „Generalplan zur Um­gestaltung Moskaus“ von 1935 war die Anlage des „Zentralen Gorki­ Kultur­ und Erholungsparkes“ eines der Hauptprojekte neben dem Bau der Metro. Der „neue Mensch“ sollte sich darin nicht nur erholen, sondern auch amüsieren, geistig weiterbilden und körperlich ertüchtigen.

Vor wenigen Jahren wurde der Park modernisiert und ist nun zum neuen Zentrum des öffentlichen Lebens in Moskau geworden. Heute finden hier kostenlose Yoga-­ und Tanzkurse statt, es gibt bunte Sitzkissen und kostenloses W­LAN. Der Park spiegelt den Wandel der Verhältnisse in Moskau: Er zieht eine wachsende Mittelschicht an, die politisch aktiv ist und den öffentlichen Raum sucht.

Slums in Jakarta © Marcia Schenck

Klimawandel, Ressourcenknappheit und andere menschlich verursachte Herausforderungen

Viele Megastädte liegen an geologisch oder klimatisch prekären Orten. Eine davon ist Jakarta, wo Marcia Schenck für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit arbeitet. Da der Meeresspiegel langsam aber stetig durch die globale Klimaerwärmung steigt, wird die Stadt von immer schlimmeren Überschwemmungen heimgesucht. Studien zufolge wird die Stadt weiter sinken und in ihrer jetzigen Form nicht mehr funktionsfähig sein. Hinzu kommt die soziale Kluft inner­halb der Stadtbevölkerung. Die Armen sind gezwungen, sich in den Schwemmgebieten anzusiedeln, aber die einfachen Bambus­häuser fallen auf dem weichen Sand immer wieder in sich zu­ sammen. Tausende Menschen verlieren dadurch ihr Hab und Gut.

Dass Jakarta nicht funktionsfähig erscheint, bedeutet nicht, dass die Informalität keine Chancen für Planbarkeit bietet. Für die Asiatische Entwicklungsbank, wo Gabriela Blatter arbeitet, ist städtische Entwicklung mittlerweile ein wichtiger Bestand­teil der Entwicklungszusammenarbeit. Dabei wird partizipativen Ansätzen ein großer Stellenwert eingeräumt: Stadtentwicklung muss die sozialen und politischen Aspekte der Selbstorganisation berücksichtigen, insbesondere bei Themen mit großer sozialer Sprengkraft, zum Beispiel bei Umsiedlungsprojekten.

Zu häufig haben in der Vergangenheit Großprojekte wie der Bau der Metro in Neu Delhi schwere soziale und ökologische Probleme verursacht. Deshalb gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Sicherheitsrichtlinien. Das streng durchgeführte Monitoring der Entwicklungsbanken soll für eine faire und nachhaltige Kompensation der betroffenen Bevölkerung sorgen. Gute Umsiedlungsprogramme arbeiten nicht nur mit kurz­ fristigen Kompensationszahlungen, sondern mit langfristigen „Alternative Livelihood Programs“, zum Beispiel Berufs­ bildungskursen.

Ganz andere Erscheinungsformen hat Urbanisierung in Konflikt­ regionen. Julia Ismar arbeitet für das Umweltprogramm der Vereinten Nationen im Sudan. Rohstoffnutzung und Ressourcen­ planung sind für sie die größten Herausforderungen für die wachsenden urbanen Zentren in Darfur. Der Konflikt hat das Leben auf dem Land unsicher gemacht, weshalb immer mehr Menschen in die informellen Flüchtlingslager am Stadtrand ziehen. Die Nachfrage nach Baumaterial, vor allem Ziegeln, hat sich erhöht, sodass die Wälder um die Stadt gerodet und wertvolle Wasserressourcen zur Herstellung verbraucht werden. Die Wege, die die Bevölkerung zurücklegen muss, um Wasser und Brennholz zu besorgen, werden immer länger und gefähr­licher. Die soziale Struktur des Dorfes ist in den Städten zer­brochen, doch eine neue urbane Kultur hat sich nicht entwickelt. Zu groß ist das durch den Konflikt geschürte gegenseitige Misstrauen. Der Wunsch nach Rückkehr ist trotz der unsicheren Lage stark. Die Stadt als Durchgangsstation oder wie der US­ amerikanische Soziologe Mike Davis es nannte: Urbanisierung ohne Urbanität.

Ist Urbanisierung unser Verderb oder eine Chance für eine nachhaltige gesellschaftliche Zukunft? Ist die Stadt Teil der Lösung oder Teil des Problems? In einem Punkt sind sich alle Kollegiaten einig: Urbanisierung muss gestaltet werden. Denn wenn zukünftig ein Großteil der Menschen in Städten leben wird, sind dies die Orte, an denen über alle anderen gesell­schaftlichen Zukunftsfragen wie Bildung, Gesundheit und Umweltschutz entschieden wird. Städte sind unumkehrbar die Grundlage unseres zukünftigen Zusammenlebens.