8. Juli 2021

Von der Faszination am Scheitern

08.07.2021 — Berlin, Deutschland

Was wäre, wenn wir alle der Tatsache ins Auge sähen, dass wir irgendwann auch scheitern? Waleria Schüle führt in das Jahresthema des Netzwerks für internationale Aufgaben (nefia) ein und berichtet von eigenen Erfahrungen. Ein Denkanstoß.

Das Scheitern ist für mich ein besonderes Herzensthema. Man könnte sagen, ich habe eine besondere Leidenschaft fürs Scheitern. Nicht auf eine boshafte Art: Ich erfreue mich nicht an dem Leid, das dem Scheitern innewohnt. Aber ich bin fasziniert davon, was mit uns passiert, wenn aus unseren gradlinigen Zielen unerwartete Schleifen werden.

Bisher war nefia für mich ein Netzwerk, in dem das Scheitern ein Schattendasein führte. Ein Kreis, in dem wir uns trafen, um die „Erfolgreichen“ im Licht von Scheinwerfern zu beklatschen. Und in dem die Scheiternden höchstens in dunklen Ecken über ihre Krisen flüsterten. Ich bin gespannt, wie es uns verändert, wenn wir stattdessen dem Scheitern mit mehr Offenheit begegnen.

Straucheln um zu wachsen

Natürlich ist das Scheitern unbeliebt. Wir wollen nach unseren eigenen Regeln leben, uns selbst und anderen unsere Kraft beweisen. Das Scheitern zwingt sich meistens auf. Und ob wir es wollen oder nicht, lehrt es uns Dinge, die wir brauchen, um zu wachsen.

Nicht selten hält das Scheitern uns den Spiegel vor. Es konfrontiert uns mit unseren größten Ängsten; zeigt uns unsere Schatten. Es zeigt uns, was wir nicht sehen wollen. Es erinnert uns an unsere urmenschliche Verletzbarkeit. Auch daran, dass das Leben seinen eigenen Rhythmus hat. Dass unsere Kontrolle begrenzt ist. Dass wir mehr sind als gut geölte Leistungsträger.

"Es regnet". Eine Illustration von Sebastian Sengstock.

Scheitern als Grundelement des Lebens

Mein eigenes Scheitern, der Burnout, lehrte mich, dass es andere Wege gibt, als uns vor dem Scheitern zu verstecken. In der buddhistischen Tradition ist das Leiden — der Kern des Scheiterns — als Grundelement des Lebens anerkannt. Die Vipassana-Meditation lehrt die Kunst, das Scheitern zu akzeptieren. Es geht um Demut, um das Geschehen-lassen und das Vertrauen, dass sich jedes Leiden verändert mit der Zeit. Es lehrt, dass das Leben nicht statisch ist, nicht kontrollierbar. Und dass das Scheitern eben ein Teil des großen Bildes ist. Teil von uns, und Teil des Lebens.

Ich bin fasziniert vom Scheitern, weil ich sehe — an mir selbst und anderen — dass jene, die fallen, mehr vom Menschsein erfahren. Ich sehe in ihnen mehr emotionale Tiefe, Charakterstärke, Mitgefühl, Authentizität. Ich würde sogar behaupten, erst das Scheitern macht uns zum ganzen Menschen.

Je erfolgreicher, talentierter wir sind, desto schwerer ist es zu akzeptieren, dass Scheitern unausweichlich ist. Und doch ist klar, dass wir alle irgendwann und auf irgend einer Ebene scheitern: persönlich, beruflich, emotional, finanziell. Ich frage mich: Was wäre, wenn wir dieser Tatsache ins Auge sähen? Was würde sich verändern, wenn wir uns als Gesellschaft in der authentischen Kunst des Scheiterns übten?

Sich wohl fühlen, um Gutes zu tun

Eine Studie aus dem letzten Jahr gibt dazu interessante Denkanstöße. Das Wellbeing Project untersuchte, inwieweit das innere Wohlbefinden von Changemakern (Aktivistinnen, soziale Unternehmer, andere Leute, die die Gesellschaft gestalten) über das Individuum hinaus wirkt. Die Resultate: Die persönliche Einstellung zum Scheitern ist ganz wesentlich für das Wohlbefinden von Changemakern. Und wenn sich eine Person wohl fühlt, trägt dies unmittelbar dazu bei, die Arbeitskultur von Organisationen und Sektoren zu verbessern.

Auch nefia ist ein Netzwerk für Changemaker. Hier versammeln sich Führungspersönlichkeiten, die sich beruflich mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit befassen. Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass wir uns dieses Jahr der Herausforderung des Scheiterns widmen.

Ich möchte mit der Einladung schließen, dieses Jahresthema zum Anlass zu nehmen, nefia mit neuen Augen sehen. Nicht nur als ein berufliches Netzwerk für Leistungsträgerinnen. Sondern auch als eine Gemeinschaft, in der wir uns als ganze Menschen zeigen dürfen, mit all unserer Verletzbarkeit.

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