26. August 2013

Wege aus der wütenden Stadt: Destruktive und kreative Konfliktlösung im urbanen Raum

Rund 100000 Bürger nahmen 2011 an Protesten in Stuttgart teil, um den Neubau des Hauptbahnhofs im Rahmen des Groß­bauprojekts „Stuttgart 21“ zu verhindern. Fast eine Million Menschen demonstrierten am 20. Juni 2013 in Brasilia und weiteren hundert brasilianischen Städten für faire Preise im öffentlichen Nahverkehr. Nahezu zeitgleich gingen Tausende Bewohner Istanbuls auf die Straße, um gegen die Bebauung des Gezi­ Parks zu protestieren. Der Spiegel titelte: „Gezi ist unser Stuttgart 21.“

Was bedeuten diese Ereignisse? Warum gewinnen lokale Kon­flikte nationale Brisanz und sorgen für weltweites Aufsehen? Warum mobilisieren lokale Themen die Massen, treiben sie auf die Straße und fordern am Ende sogar Todesopfer wie in Istanbul?

Die Themen – der Ausbau von Verkehrsinfrastruktur und städ­tischen Großprojekten auf Kosten der Grünflächen einerseits und der Abbau von öffentlichem Raum und Dienstleistungen wie Gemeindezentren, Sport­ und Spielplätzen andererseits – sind ursprünglich lokal, gewinnen jedoch schnell eine national­ politische, zuweilen ideologische Dimension. Das hat viele Ursa­chen: Städte wachsen und beheimaten immer mehr Menschen, sie gewinnen als Finanz-­ und Wirtschaftszentren an globaler Bedeutung und gleichzeitig konzentriert sich hier die mediale und politische Macht. Neue Informationstechnologien sorgen für mehrVernetzung, stärkere Mobilisierung und können teilweise Politik entscheidend beeinflussen.

Die Forderung nach dem „Recht auf Stadt“

Proteste in Istanbul, Rio de Janeiro oder Stuttgart. Was verbindet die verschiedenen Bewegungen? Die Aktivisten träumen von einer alternativen Stadt. Sie fordern eine menschlichere Stadt und wollen an der Planung ihrer Stadt teilhaben. Sie sind getrieben von dem Wunsch nach Kooperation und Kameradschaft und kritisieren die neoliberale Globalisierung mit ihren destruktiven Einflüssen auf die Stadt. Dazu gehören die Privatisierung von öffentlichem Raum und urbaner Infrastruktur, die Verschlechte­rung von Arbeits-­ und Wohnverhältnissen und ökologische Degradierung, Einschnitte in Sozialleistungen und dadurch be­dingt schrumpfender Raum für autonomes Handeln und indivi­duelle Lebensgestaltung. Im Mittelpunkt der urbanen Bewe­gungen in Brasilien beispielsweise steht die Kritik an der schlechten Qualität des öffentlichen Personennahverkehrs. Da­ hinter jedoch steht die Kritik am mangelnden Respekt vor den Rechten und der Würde der Bürger. Die urbanen Bewegungen fordern Mitspracherecht. Der Soziologe Henri Lefebvre bezeich­net diese Vision als „Droit à la ville“ und meint damit, dass alle Bürger einer Stadt wirtschaftliche, politische und soziale Vortei­le und Leistungen der Stadt genießen dürfen.

Mega­Events wie die Olympischen Spiele 2010 in Vancouver und 2012 in London führen mit drastischer Geschwindigkeit zur Privatisierung von städtischem Raum. Bürger werden zwangsweise umgesiedelt oder schrittweise verdrängt. Die Protestler hinter­ fragen den Nutzen und die Nutzer dieser Projekte. Zunächst mo­bilisiert die Angst vor steigenden Fahrpreisen oder der Zorn über die Bebauung eines Parks die Massen mit dem konkreten Ziel, das geplante Projekt abzuwenden.

Der Stadtgeograph und Sozialtheoretiker David Harvey hat die Idee Lefebvres des „Rechts auf Stadt“ erneut aufgegriffen. Er stelltfest, dass die Stadt mit den in ihr ausgetragenen Konflikten destruktiv und kreativ ist. Sie stellt einen historischen Ort für kreative Destruktion dar und ist dennoch ein widerstands­ fähiges, beständiges und sozial­innovatives Konstrukt. Die Pro­testler hinterlassen brennende Autos, demolierte und geplün­derte Geschäfte, Gewalt. In Istanbul eskalierte der Konflikt derart, dass achttausend Menschen verletzt wurden und sieben starben. Auch in Stuttgart kam es zu gewalttätigen Auseinander­ setzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Wo bleibt das Kreative, Innovative und Soziale der Stadt, von dem David Harvey schreibt?

Demonstrationen für den Gezi-Park auf dem Taksim Platz © Dan Zelazo

Mediation lokaler Konflikte: ein pragmatischer Ansatz

Mit Ausnahme einiger lokal engagierter Berliner haben wenige von der sechsjährigen Mediation zur Nutzung und Gestaltung des Landwehrkanals gehört. 2007 kam es zum Konflikt zwischen Anwohnern und dem Berliner Wasser­- und Schifffahrtsamt, nachdem ein Uferabschnitt im Stadtteil Kreuzberg eingestürzt war. Die zuständige Behörde begann prompt mit Sicherungsmaß­nahmen, Bäume sollten gefällt und das Ufer neu gestaltet werden. Die Anwohner gründeten eine Bürgerinitiative zum Schutz des Naturgebiets. Es folgten Proteste und radikale Aktionen zur Behinderung der Bauarbeiten. Die geplanten Sanierungsmaß­ nahmen am Landwehrkanal hätten das Potential gehabt, noch weitaus mehr Menschen quer durch Berlin zu mobilisieren.

Die Wasser­ und Schifffahrtsverwaltung initiierte ein Mediations­ verfahren, um die scheinbar unvereinbaren Ziele der Parteien zu versöhnen und die akute Handlungsunfähigkeit aufzuheben. Externe Mediatoren luden Senatsverwaltung, Denkmalbehörde, Wasser­ und Schifffahrtsamt, Umweltverbände, Industrie­ und Handelskammer, Reedereien und Wasserwirtschaftsverband und Bürgerinitiativen ein – insgesamt sieben Parteien –, um gemein­sam an einer Lösung zu arbeiten.

Das Format und die Sensibilität der Mediatoren führten zum Erfolg: Sämtliche Baumaßnahmen wurden von den Konflikt­parteien gemeinsam beschlossen und das sogar um einiges kostengünstiger, als vom Staat vorgesehen. Die vielen Parteien und Interessen, bürokratische Vorgaben und die immer wieder­ kehrende Drohung, aus der Mediation auszusteigen, haben jedoch gezeigt, wie zermürbend und langwierig ein solches Verfahren sein kann. Eine umfassende Lösung für den Landwehrkanal gibt es bis heute nicht; dennoch sind die meisten am Ball geblieben. Ist eine Seite nicht zum Dialog bereit, wird der Konflikt weiter/ wieder auf der Straße ausgetragen und droht potentiell, je nach Reaktion der staatlichen Behörden, in Gewalt und Zerstörung umzuschlagen. Dies war beim Istanbuler Gezi­ Park der Fall. Einem Dialog stimmten Politiker und Investoren nicht zu.

Eine Mediation oder Dialoginitiative ist kein Patentrezept, ins­besondere, wenn Grundsatzthemen wie die Natur eines Wirt­schaftssystems die mobilisierenden Faktoren sind. Häufig tritt der lokale Konflikt in den Hintergrund und eine allgemeine Kritik am Neoliberalismus, am Ausbau der Städte und an der Verdrängung rückt in den Vordergrund. Die unterschiedlichen Grundsätze und Weltanschauungen, auch Religionen und Identitäten sind nicht verhandelbar. Dass es sich lohnt, über Mediationen und alternative Konfliktschlichtungsverfahren nachzudenken, haben der Landwehrkanal und verspätet auch Stuttgart 21 gezeigt. Der lokale Konflikt ist transformierbar und lokal lösbar, Bürger können ihr „Recht auf Stadt“ zurück­ fordern. Ein pragmatischer Weg, denn er führt zu sichtbaren Veränderungen.