11. Januar 2019

Weshalb halten sie den Westen für den Feind?

Die Einbindung Russlands in multilaterale Abkommen erlitt im letzten Jahrzehnt viele Rückschläge. Es häufen sich Aktionen, die als direkter Angriff Russlands auf bestehende Ordnungen zu werten sind. Weil davon inzwischen auch innereuropäische Grenzverläufe betroffen sind, haben die an Russland grenzenden Staaten mit dem Ausbau der Verteidigungsregime begonnen. Folgt man der Diskussion im Westen, so unterstellt der Westen der russischen Politik mitunter feindliche Motive. Ist der Westen – aus Sicht Russlands – der Feind?

Russische Matroschkas, Bild: Frank Stolze

Wer Antworten auf diese Frage sucht, muss sich mit den aktuellen ‚inneren Drehmomenten‘ der russischen Gesellschaft befassen. Seit Kant wissen wir, dass die innere Verfasstheit eines Gemeinwesens über die Möglichkeiten gleichberechtigter und friedlicher Nachbarschaft Aufschluss gibt.

Das Regierungssystem Russlands ist unter Putin kontinuierlich in eine Autokratie mit durchgängiger Machtvertikale transformiert worden. Der Gesellschaft wurde bei dem kontinuierlichen Rückbau demokratischer Institutionen (z.B. Abschaffung der Wahl der Regionsgouverneure) ein Stabilitätsversprechen gegeben. Da die Mehrheit der Bevölkerung die Versuche demokratischer Reformen unter Gorbatschow und Jelzin mit traumatischen Erinnerungen verbindet, funktioniert dieses Begründungsschema unter Rückgriff auf eine vermeintliche Stabilität in sowjetischer Vergangenheit bis heute.

Flankiert wird das Versprechen von Stabilität und Stärke des russischen Staates durch eine von Iwan Iljin – einem Denker der ‚weißen‘ Gegenrevolution – inspirierte ideologische Staatsdoktrin (Laqueur, Zhavoronkov). ‚Weiß‘ versteht sich hier als Gegensatz zur kommunistischen ‚roten Revolution‘. Diese Staatsdoktrin besteht aus folgenden drei Elementen:

Eurasischer Nationalismus: Danach haben Russland und Europa keine oder nur geringe kulturelle Verbindungen miteinander; stattdessen sollte Russland messianistisch einer besonderen historischen Bestimmung folgen und sein Einflussgebiet ausweiten.

Krisenabwehr-Modus: Statt längerfristige Reformvorhaben anzupacken, deklariert die Regierung willkürlich Vorfälle jeglicher Art als Krisen, identifiziert vermeintliche Feinde und Provokateure Russlands und mobilisiert eine nationale Abwehr.

Die Moralauffassungen der russisch-orthodoxen Kirche stehen mittlerweile unter dem Schutz des Staates. In ihrer Lesart fördern westliche Freiheits- und Menschenrechte demographischen Niedergang, Individualismus und Unmoral und sind der russischen Nation ebenso fremd wie die Moral des Marxismus.

Eine Obrigkeit, die solchen Maximen folgt, prägt natürlich die Gesellschaft. Einerseits, indem sie sie permanent ideologisch penetriert und für ihre Anliegen mobilisiert. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten und Institutionen werden nur geduldet oder gefördert, wenn sie in die Staatsdoktrin eingebettet sind. So trat 2012 das sogenannte Agentengesetz in Kraft, demzufolge sich russische Nichtregierungsorganisationen in ein Register „ausländischer Agenten“ eintragen lassen müssen, wenn sie Geld aus dem Ausland erhalten und politisch aktiv sind. Andererseits, indem sie hinsichtlich der Lösung der realen wirtschaftlichen und sozialen Probleme auf später vertröstet und Unterordnung unter ‚übergeordnete‘ Ziele einfordert. Der Kühlschrank mag leer sein, aber die Krim gehört uns – hat Swetlana Alexijewitsch diesen Zynismus beschrieben.

Vermeintliches Auserwähltsein, fatalistische Opferbereitschaft sowie fehlende kritische Öffentlichkeit – das bildet zugleich den Nährboden, auf dem Verschwörungstheorien gesät werden können und gedeihen. Der Glaube an Verschwörungstheorien ist in der russischen Gesellschaft stark verbreitet und fest verankert.

Echte politische Opposition sowie unabhängiger Journalismus haben es unter solchen Bedingungen heute doppelt schwer als  eine kritische Gegenöffentlichkeit bei der Meinungsbildung mitzuwirken. Antikorruptionsaktivisten um Alexej Nawalny decken in „Rubel und Kopeke“ auf, welche Ressourcen durch kriminelle Machenschaften in privaten Vermögen landen und bei der Linderung dringender sozialer Probleme fehlen. Der Staat kontrolliert alle wichtigen Wirtschaftssektoren (Roth, Browder) aber niemand die Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit dieses staatlichen Handelns; vage formulierte Gesetze erschweren die Kontrolle ihrer Einhaltung und erleichtern willkürliches Verhalten staatlicher Akteure – deshalb landet Russland im Korruptionsindex von Transparency International wiederholt im unteren Drittel. Die Wirkung von Nawalnys Enthüllungen ist dennoch sehr begrenzt, denn …

Ob die jüngsten Proteste gegen Putins Rentenreform als Aufbruchsignale eines nicht-autokratischen Gemeinwesens gedeutet werden können (Jerofejew), bleibt abzuwarten.

Daher lautet mein Fazit: Autokratische Regime geraten in der Nachbarschaft von Staaten mit funktionierender Gewaltenteilung und demokratischen Wahlen schnell in Legitimationskonflikte. Die Angst vor selbstbewusster und -organisierter Verantwortungsübernahme durch das eigene Volk sublimieren Autokraten mit Aggression gegenüber diesen Nachbarstaaten. Russlands Verhalten gegenüber der Ukraine kann nicht anders gedeutet werden. Das Mindset der amtierenden russischen Politiker ist auf die Verteidigung autokratischer Strukturen gerichtet, weshalb sie den Westen nur noch als Feindbild wahrnehmen. Und deshalb ist weiterhin und wahrscheinlich sogar zunehmend mit feindseligen Handlungen gegenüber dem Westen zu rechnen.