11. November 2020

Wessen Erbe bewahren?

11.11.2020 — Berlin, Deutschland

Der internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS) hat mit seiner männlichen und europäischen Prägung über Jahrzehnte die internationale Denkmalpflegepraxis bestimmt. Als Vorstandsmitglied der Organisation setze ich mich dafür ein, dass Welterbeprozesse in Zukunft vielfältiger gestaltet werden.

Am 10. Mai 2011 schrieb die Kunsthistorikerin und Architekturkritikerin Ira Mazzoni in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel über ICOMOS. Titel: „Dunkle Gesellschaft“. Thema war die undurchsichtige Einflussnahme des damals amtierenden Präsidenten der Organisation. Das Image eines von Vetternwirtschaft geprägten, konservativen „Old Boys Club“ hat der Rat noch immer nicht ganz abschütteln können — trotz Bemühungen, jüngere Fachleute für den Verein zu begeistern.

Das lag auch daran, dass die nationalen Komitees von ICOMOS lange Zeit schwer zu erfüllende Auflagen stellten, wenn sie neue Mitglieder aufnahmen. Das schreckte Außenstehende und insbesondere jüngere Menschen ab und schloss sie aus. Außerdem war die Organisationskultur nicht aufgeschlossen gegenüber progressiveren Denkmalpfleger*innen.

Auch ich habe unangenehme Erfahrungen mit älteren, weissen Männern gemacht, die mich entweder ignorierten, belächelten oder mir offen feindselig gegenüber standen. Dies geschah vor allem, als ich mich 34-jährig der Kampfkandidatur gegen einen über 60-jährigen deutschen Mitbewerber stellte, um in den Vorstand des weltweiten Rats gewählt zu werden — letztendlich erfolgreich.

Unsere Organisation ist nur ein Beispiel einer viel weitreichenderen Problematik: In der internationalen Kulturerbeindustrie arbeiten hauptsächlich Leute aus westlichen Ländern, insbesondere aus Europa, Nordamerika und Australien.

Ganz besonders extrem ist dies innerhalb der Prozesse des UNESCO-Welterbesystems. Hier gibt es kaum Expert*innen aus Südostasien oder Afrika, die für den Welterbestatus nominierte Stätten und entsprechende Anträge evaluieren.

Im Juli 2020 wurde in einer Kunstaktion in Liverpool die gestürzte Statue des Kolonialisten und Sklavenhändlers Edward Colsten mit einer Statue der "Black Lives Matter"-Aktivistin Jen Reid ersetzt. Credit: Sam Saunders / Wikimedia Commons.

Die „Black Lives Matter“-Bewegung hat ICOMOS dieses Jahr einen neuen Impuls gegeben. Wir haben es geschafft, einen Prozess anzustoßen, um uns kritisch mit Vielfalt in den eigenen Strukturen auseinanderzusetzen. Dies trotz Gegenstimmen einiger Mitglieder, die es nicht als ihre Aufgabe sehen, sich mit der politischen Dimension ihres Berufs zu befassen — also mit Denkmalstürzen und rassismuskritischem Denken.

40 Mitglieder aus Nationalkomitees der ganzen Welt diskutierten das Thema der Entkolonialisierung von Denkmustern innerhalb von ICOMOS und im allgemeinen Kulturerbekontext:

  • Warum sind Black, Indigenous and People of Color in ICOMOS unterrepräsentiert?
  • Welche strukturellen Ungleichheiten reproduzieren wir durch unsere Praxis und innerhalb unserer Organisation?
  • Und was sind über kurz oder lang mögliche Maßnahmen, mit denen wir uns zu einer diversen und inklusive Organisation entwickeln können, die eine antirassistische Denkmalpflegepraxis betreibt?

Der Bericht soll als Aufforderung zu weiteren Aktivitäten und Auseinandersetzungen auf allen Ebenen der Organisation verstanden werden: in Nationalkomitees, Arbeitsgruppen oder internationalen Wissenschaftskomittees. Durch unseren Workshop haben wir bewirkt, dass eine Arbeitsgruppe gegründet wird und das Thema ein neuer Schwerpunkt des ICOMOS Arbeitsprogramm 2020-2023 ist.

Im Dezember 2020 könnte zudem erstmals eine Frau zur Präsidentin von ICOMOS gewählt werden. Beide Entwicklungen sind gute Voraussetzungen, um antirassistisches Denken und Handeln ins Zentrum zu rücken und zu überlegen, wie ein feministischer Blick auf die Denkmalpflege die Praxis verändern könnte.

Es besteht Hoffnung, dass in Zukunft vielfältiger darüber diskutiert werden wird, wessen Erbe wir bewahren wollen.

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