15. Oktober 2014

Auf der Flucht

Jörg Walendy, Autor des Thrillers „Tag der Unabhängigkeit“, ist in seiner Arbeit im Auswärtigen Amt tagtäglich mit den Schicksalen syrischer Flüchtlinge im Libanon konfrontiert. An­statt den Resettlement­ Prozess aus bürokratischer Sicht zu be­ schreiben, stellte er sich den Weg zur dauerhaften Neuansied­ lung in Deutschland – welche nur für wenige glückliche Flüchtlinge Realität wird – aus einer ganz persönlichen Per­spektive vor.

Hind reibt den Staub von ihrem Pass. Wasserflecken haben sich durch die dünnen Seiten gefressen. Als sie den Fuß über die imaginäre Linie zwischen zwei Steinen setzt, strauchelt sie fast. Das letzte Mal ist sie über die Grenze gekommen, um mit ihrer Familie in Byblos an den Strand zu gehen. Anstelle zweier Taschen mit Kleidung und Schuhen trug sie Bücher und eine Sonnenbrille. Keine drei Jahre ist das her. Das Haus in Aleppo stand noch. Sie geht weiter, bis sie zwischen zwei Wassertanks die Flagge des UNHCR entdeckt. Zelte stehen zwischen Zäunen und Bergen aus Plastikmüll. Als sie das Lager betritt, weiß sie nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Ihr Onkel hat in den 80er Jahren nicht weit von hier entfernt in der syrischen Armee gedient. Undenkbar.

Tage sind vergangen, seit sie eine Frau mit einem Abzeichen der Vereinten Nationen um den Hals befragt hat. Irgendwann fiel auch das Wort „Deutschland“. Sie hatte mechanisch genickt, war in Gedanken aber bei den Kindern, denen sie im Lager etwas Englisch beibringt. Am Abend, als das Husten und die Diskussionen der Zeltnachbarn abklingen und nur das Brum­men der Generatoren zu hören ist, versucht sie wieder, die Familie zu erreichen. Gestern war die Leitung tot, heute meldet sich ihr Bruder. Sie solle abwarten, vielleicht halte die Waffen­ruhe ja an. Die Konversation bricht mitten im Satz ab. Als sie zurück ins Zelt geht, übersieht sie fast die Umschläge mit den Unterlagen und bunten Einlegezetteln. Seitenweise Formulare, die jeweils unterschiedliche Logos tragen.

Flüchtlingslager Bar Elias(Bekaa-Ebene) ca. 10 km westlich der syrischen Grenze im Libanon © Jörg Walendy

Hind legt den Kopf gegen die warme Seitenscheibe des Busses. Er ruckelt, als er die Auffahrt Richtung Aley und weiter Rich­tung Küste nimmt. Die Gipfel sind noch schneebedeckt, zwi­schen den Hängen drängen sich Bauruinen, Werbetafeln und Kabelstränge. Am Straßenrand Tankstellen, offene Holzkohle­feuer mit gebratenem Fleisch und Kinder, die dem Wagen miss­trauisch hinterherblicken. Kurz vor den verspiegelten Bürotür­men Beiruts hält der Bus vor einem Krankenhaus, in welchem sie eine tief verschleierte Frau abhört und zu einem Röntgengerät führt. Zwischen den wartenden Menschen stehen Männer mit Schirmmützen des IOM und flüstern einander zu. Als sie sich umdreht, lächelt einer der jüngeren und sagt ein paar Worte auf Italienisch. Sie schweigt.

Sie überprüft den Inhalt ihrer Tasche. Zwei Wochen sind ver­gangen. Alle privaten Dinge sind im Zeltlager geblieben, bei einem Cousin, der vor wenigen Nächten über die Grenze gekommen ist. Er sah aschfahl aus und wollte nicht erzählen, wo sich ihr Bruder befindet. Sie senkt den Blick als sie einen Flachbau mit der Aufschritt „qism at­taschira“ betritt und ihre Unterlagen in eine Metallschublade legt. Auf der anderen Seite des Schalters sortiert eine Frau mit geübten Bewegungen die Papiere. Ein Mann mit Anzug und Krawatte blickt ihr über die Schulter, nickt kurz und verschwindet im Hintergrund. Ihr Cousin ist nicht mitgekommen. Er will wieder zurück über die Grenze und auch auf den „kulturellen Vorbereitungskurs“ ver­zichten. Es gäbe schließlich Hoffnung auf ein schnelles Ende von Assad.

Die Stimme ihres Bruders ist kaum zu verstehen. Die knat­ternden Geräusche im Hintergrund könnten Kämpfe sein, viel­ leicht auch Schlimmeres. Er rufe aus Yabroud an. Hind presst das Telefon an ihr Ohr und versucht, sich zu konzentrieren. Draußen schießen Plattenbauten und überlebensgroße Bilder von Nasrallah an ihr vorbei. Der Bus wird gleich am Flughafen eintreffen. Sie solle besser nicht zurückkommen, sagt er. Viel­leicht könne sie von Deutschland aus aber Geld für Antibiotika schicken. Als der Bus anhält, ist die Verbindung wieder unter­brochen. Hind versucht mit einem der Begleiter zu sprechen, der Mann nimmt sie kaum wahr und drückt sie mit den anderen in das Flughafengebäude. Dort sitzen Männer in Anzügen an Tischen und verteilen gestempelte Papiere. Als ihr Name fällt, reagiert sie zuerst nicht, hebt dann die Hand.

Kalter Regen prasselt gegen die Fenster. Eine Heizung brummt. Sie muss ihrem Bruder helfen. Sie hat nur stundenweise Internet, aber gleich wird sie nachsehen können, ob er sich wieder gemel­det hat. Vor vier Nächten hat er sich kurz für das Geld bedankt, dass sie hier gesammelt hat. Ob es ihn wirklich erreicht hat, weiß sie nicht. Die schlanke, blonde Frau, die ihr gegenüber­ sitzt, nickt ungeduldig und spricht weiter auf Englisch. Sie solle einfach loslassen. Friedland hieße der Ort. Zeit, endlich abzuschalten. Sie sei in Sicherheit.