2. Oktober 2014

Auf der Suche nach neuen Ansätzen einer menschlichen Asylpolitik: Nefiaten im Gespräch

Auf der Suche nach neuen Ansätzen: nefia ­Alumni Valeska Onken und Jakob Preuss im Gespräch mit dem Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrates Claus­Ulrich Prölß – Ein Plädoyer für mehr Solidarität mit Flüchtlingen und eine menschliche Asylpolitik in der EU.

Prölß: Erklären Sie das Asylsystem der Europäischen Union für gescheitert?
Preuss: Der Europäischen Union ist es nicht gelungen, ein men­ schenwürdiges System zu schaffen, welches Flüchtlingen ein faires und schnelles Verfahren garantiert; Menschen, die einen Antrag auf Asyl stellen, wird häufig das Gefühl vermittelt, sie seien Kriminelle. Die Anwendung der unsäglichen Dublin­ Regelung führt dazu, dass Flüchtlinge oft in Länder zurückgeschickt werden, wo die Aussichten auf Asyl am geringsten sind und wo sie durch die anhaltende wirtschaftliche und soziale Krise wenig bis keine Aussicht auf ein besseres Leben haben.

Zwar gibt es zum Beispiel in Griechenland erste Anzeichen einer verbesserten Durchführung des Asylverfahrens. Allerdings werden die neuen Regelungen und Antragsannahmezentren auch dazu genutzt, die Ausstellung von Ablehnungsbescheiden und die Abschiebung zu beschleunigen. Migranten, deren Asyl­anträge abgelehnt wurden, werden ähnlich wie Straftäter bis zu achtzehn Monate eingesperrt. Die Mitgliedstaaten der EU ha­ben es nicht geschafft, Solidarität und Schutz für Flüchtlinge zu gewähren. In Anbetracht der humanitären Katastrophe in Syrien und der Anstrengungen der Nachbarländer Libanon, Türkei und Jordanien bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist dies ein Armutszeugnis.

Prölß: Wie kann man aus Ihrer Sicht das Sterben von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer verhindern und gleichzeitig den effektiven Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren sicherstellen?

Onken: Die irregulären Migranten, welche die gefährliche Reise über das Mittelmeer auf sich nehmen, sind nicht alle Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Das macht die Reise aus Sicht der Flüchtlinge nicht weniger verzweifelt oder legitim, ist aber wichtig, um die Haltung der Zielstaaten zu verstehen: Diese haben keine international­rechtliche Ver­pflichtung, Menschen ohne Flüchtlingsstatus aufzunehmen. Die Anerkennung des Flüchtlingsstatus kann erst stattfinden, wenn die betroffenen Menschen die beschwerliche Reise hinter sich haben.
Gleichzeitig haben die Staaten die Verpflichtung, keine Asyl­ suchenden von ihren Grenzen abzuweisen. Die tragischen Ereig­nisse vor Europas Küsten sind das Ergebnis einer Praxis der bewussten Umgehung dieses Gesetzes. Die EU­Agentur Frontex handelt dabei im Auftrag der EU. Das bedeutet: Anstatt der Schutzverpflichtung nachzukommen, werden die überfüllten Boote zur Umkehr gezwungen.

Graffiti von Banksy auf der israelischen Mauer im Westjordanland, nahe Bethlehem. © PercyGermany

Wir brauchen eine Politik, die mehr legale Wege in die EU ermöglicht. Die europäischen Länder könnten viel mehr über­ gesiedelte Flüchtlinge oder Kontingenzflüchtlinge aufnehmen, als das momentan der Fall ist. Wenn diese Menschen die Flücht­lingsanerkennung schon in der Herkunftsregion bekämen, könnten sie sicher in ein Aufnahmeland gebracht werden.

Es ist absurd, in Europa von Fachkräftemangel zu sprechen, und Asylbewerbern nicht zu gestatten, zu arbeiten oder sich aus­bilden zu lassen. Noch absurder ist es, Migranten mit Qualifika­tionen abzuweisen, die andererseits durch Anwerberprogramme händeringend gesucht werden.

Preuss: Allen Flüchtlingen sollte die Einreise gewährt werden, „legal und gefahrenfrei“, wie es die Menschenrechtsorganisation ProAsyl ausdrückt. Das bedeutet: Die Aufhebung der allge­meinen Visapflicht.

Unvermeidbar ist ein fundamentales Umdenken bei der Ein­wanderungspolitik. In vielen Mitgliedstaaten, gerade auch in Deutschland, werden alle Migranten in das Korsett des Asyl­ verfahrens gesteckt, auch wenn das weder der Realität und den Bedürfnissen der Migranten noch derer der Aufnahmeländer entspricht. Deutschland ist weit davon entfernt, verstanden zu haben, dass die Zukunft Europas, ob man es will oder nicht, auch von einer sinnvoll gestalteten und fortschrittlichen Ein­ wanderungspolitik abhängt.

Prölß: Sollte man – abgesehen von vorhandenen Aufnahmeregelungen und Resettlement-Programmen – zusätzliche Instrumente schaffen, um die Einreise von Flüchtlingen in die Europäische Union und nach Deutschland zu legalisieren?

Onken: Auf jeden Fall. Man muss nur mal Deutschland und Schweden vergleichen, zwei Länder, die nicht am Mittelmeer liegen und somit keine Ersteinreiseländer sind. In Schweden hat man sich verpflichtet, mehr humanitäre Flüchtlinge aufzu­nehmen und bietet gleichzeitig denjenigen Migranten, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden und denen somit Asyl verweigert wird, die Möglichkeit, sich über wirtschaftliche Kriterien, also über den Arbeitgeber, für einen permanenten Aufenthaltsstatus zu qualifizieren.

In Deutschland ist es so, dass das Asylsystem und die Arbeits­ migration weiterhin zwei komplett getrennte Prozesse sind. Und seien wir doch mal ehrlich: Wir bekommen in Deutschland nicht die Massen an unqualifizierten Migranten. Die Men­schen, die es schaffen, mit einem Flugzeug in Deutschland ein­ zureisen und gleich am Flughafen Asyl zu beantragen, sind meist gut vernetzt und haben die finanziellen und sozialen Res­sourcen, sich gut in Deutschland zu integrieren. Wir können ja in Deutschland anfangen, Immigranten als Menschen zu be­handeln und nicht als Bettler, die uns etwas wegnehmen wollen.

Prölß: Ich muss feststellen, dass die nationalen Resettlement­ und Aufnahmeprogramme der EU ­Staaten nur eine geringe Zahl von Plätzen bieten – bezogen auf die vom Flüchtlings­hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geforderten Kontingente. Das Beispiel Syrien macht doch deutlich: Es gibt keine gemeinschaftliche und solidarische Hilfe für syrische Flüchtlinge. Auch die deutschen Aufnahmeprogramme sind Tropfen auf den heißen Stein. Ihre Hürden sind für die meisten unüberwindlich. In der Praxis haben wir es mit Familien­ tragödien im wahrsten Sinn des Wortes zu tun. Ganze Familien­verbände befinden sich zum Teil in unvorstellbarer Not, sind krank und traumatisiert, leben in Angst und ohne Perspektive. Gerade aktuell müssen wir den in Deutschland lebenden Ange­hörigen sagen: Die Programme sind größtenteils geschlossen. Es gibt von Seiten Deutschlands und der EU keinerlei weitere Hilfen. Es gibt nur den Weg der illegalen Einreise! Gerade jetzt bräuchten wir aber große Aufnahmekontingente ohne große Hürden – und die nicht nur in Deutschland – für syrische Flüchtlinge. Wir bräuchten eine erleichterte Visaerteilung auch ohne die Verpflichtung zur Lebensunterhaltssicherung. Das wäre effektive und unbürokratische Hilfe!

Prölß: Hat sich aus Ihrer Sicht die europäische Asylzuständigkeitsregelung bewährt?

Preuss: Nein, diese Regelung ist ein enormes Problem. Flücht­linge mit familiärer Bindung in die EU können nicht zu ihren Verwandten reisen oder von ihnen unterstützt werden. Ich werde nie vergessen, wie ein seit zwanzig Jahren in Deutschland lebender Syrer vor einem der Aufnahmelager beim Grenzfluss Evros in Griechenland, in denen die Lebensbedingungen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil als erniedrigend und menschenverachtend eingestuft wurden, versuchte, seinen Bruder „zu befreien“. Anstatt ihn zu seiner Familie nach Deutschland weiterreisen zu lassen, wurde er nach seiner Flucht über die Türkei eingesperrt. Auch das „burden­ sharing“ klappt nicht, wie Valeska Onken bereits erwähnte: Die Flüchtlinge, die mit dem Boot über das Mittelmeer kommen, und die, die per Flugzeug nach Deutschland einreisen, haben ganz unterschiedliche Voraussetzungen. Man kann daher nicht nur Asylbewerberzahlen vergleichen, um die Verantwortung sinnvoll unter den Mitgliedstaaten zu verteilen. Die Dublin­ Regelung ist in ihrer derzeitigen Ausgestaltung unsinnig, unsoli­ darisch und der EU nicht würdig!

Prölß: Welche Eckpunkte umfasst für Sie die Entwicklung einer „Willkommenskultur“ für Flüchtlinge?

Onken: Der Begriff der „Willkommenskultur“ ist für mich stark mit der Fachkräfteanwerbung verbunden. In Bezug auf Flüchtlinge ist er mir weniger geläufig – was ich interessant finde, weil man die Frage stellen könnte, wer uns willkommen ist und wer nicht.

Im Kern geht es um die Frage der Integration. Für mich wäre die Schulung der zuständigen Beamten und die Vermittlung von interkultureller Kompetenz und Kommunikation ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Willkommenskultur in Deutschland.
Auch würde ich es sehr begrüßen, wenn endlich der Irrglaube abgelegt würde, wonach jegliche Form der Integration dazu führt, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, für immer und ewig hier bleiben wollen. Die meisten Flüchtlinge und Migranten, die ich kenne, haben eine tiefe Verbundenheit mit ihrem Herkunftsland und planen langfristig, wenn es die Sicherheitslage erlaubt, wieder zurück zu kehren. Integration, die Erlaubnis zu arbeiten oder sich auszubilden, ist für diese Menschen eine Befähigung, in ihren Herkunftsländern eine konstruktive Rolle zu spielen. Denjenigen, die hier jahrelang auf ihre Aufenthaltsgenehmigungen warten müssen und in der Zeit nichts machen dürfen, fällt es viel schwerer, jemals wieder zurückzukehren, denn sie gehen mit „leeren Händen“.

Preuss: Ich sehe das ähnlich. Wichtig wäre das Recht, zu ar­beiten, umgehend Sprachkurse anzubieten, und eine adäquate Unterbringung. Derzeit gibt es Unterkünfte für Asylbewerber in völlig abgelegenen ländlichen Regionen, wo die Menschen regelrecht „versauern“. Die Einrichtung von Aufnahmezentren in allen Berliner Bezirken zeigt doch, dass Sichtbarkeit wichtig ist, um zivilgesellschaftliche Unterstützung zu organisieren und eine öffentliche Debatte zu führen. Zunehmende Protest­ aktionen der Flüchtlinge in den letzten Jahren sind ein ermuti­gendes Zeichen, dass anhaltender Protest Wirkung zeigt. Wir sollten uns fragen, was jeder Einzelne machen kann, um zu einer Willkommenskultur und zu mehr Solidarität mit Flüchtlingen und Migranten beizutragen.