22. März 2014

Ausnahmezustand in Tripolis

Zurzeit bin ich als Mercator Fellow bei der NGO MAG (Mines Advisory Group) in Libyen, wo  MAG drei Standorte hat: in der Hauptstadt Tripolis, in Zintan und Misurata. Die letzten Wochen und den Großteil meiner Zeit in Libyen habe ich in Misurata verbracht; mit ca. 250.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Libyens und etwa 200km östlich von Tripolis gelegen. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Libyen scheint Misurata fast friedlich. Weit und breit ist kein Checkpoint und kein Sicherheitspersonal zu sehen. Abends und nachts kann man zwischen dem allnächtlichen Feuerwerk, sogenanntes feierliches Schießen vernehmen – ein paar Schüsse in die Luft, völlig normal. Als MAG Mitarbeiter können wir dort selber mit dem Auto fahren, in der Innenstadt von Geschäft zu Geschäft spazieren und uns mit Freunden in Restaurants treffen – auch als Frauen – denn wir fühlen uns sicher. Grund dafür ist, dass es in Misurata ein unbestrittenes Gewaltmonopol gibt. Die Katibas (Brigaden – oft auch mit „Miliz“ übersetzt) der Stadt, die sich während der Revolution gebildet haben, sind geeint und dem Militärrat der Stadt gegenüber loyal. Zudem sind die Misrata Brigaden militärisch die mächtigsten in ganz Libyen, mit mehreren tausend Kämpfern und mehr Panzern als die libysche Armee. Misurata ist dementsprechend ruhig und Checkpoints gibt es nur an den beiden Ein-, bzw. Ausgängen des Stadtgebiets.

Seit drei Wochen bin ich jedoch wieder in Tripolis. Leben und Arbeiten ist für uns Expats hier weitaus eingeschränkter als in Misurata. Denn die Sicherheitslage in der Hauptstadt ist inkonstant und absolut unvorhersehbar. Hier sind neben den politischen Akteuren, auch die Sicherheitskräfte, bzw. die bewaffneten Akteure, stark fragmentiert. Während der Revolution gab es keine lokale Rebellenbrigade und bisher gibt es keine funktionierende Polizei oder Armee. Um diesem Sicherheitsvakuum zu begegnen, bat die Übergangsregierung nach der Revolution Brigaden aus anderen Städten, u.a. auch aus Misurata und Zintan, einzelne Sicherheitsaufgaben in der Hauptstadt zu übernehmen. Die Folge ist, dass sich heute unterschiedliche, zum Teil rivalisierende Gruppen in der Stadt tummeln, nicht nur Brigaden, sondern auch kriminelle Banden und Milizen. Während des letzten halben Jahres gab es wiederholt Proteste gegen die Präsenz der Brigaden, von denen einige dann teilweise aus der Stadt abzogen, andere befinden sich aber weiterhin vor Ort. Für unseren Alltag bedeutet dies ständige Wachsamkeit und absolute Unplanbarkeit.

Einblick in eine eher untypische Woche in Tripolis:

Montag: nach etlichen Wochen in Misurata, wo ich die Menüs der von uns frequentierten vier Restaurants fast auswendig kenne und weiß wo ich Hühnchen, wo Kebab und wo Shawarma bestelle, fiebere ich dem Abend in Tripolis entgegen: ein Kollege trifft sich mit einem libyschen Freund zum Essen und nimmt mich mit! Wir fahren in die Altstadt in ein indisches Restaurant und ich komme mir vor wie in einer x-beliebigen Hauptstadt. Menschen flanieren über den Märtyrerplatz im Zentrum, vor den Cafés sitzen alte und junge Männer, sogar Frauengrüppchen sind unterwegs. Es wird ein entspannter Abend mit gutem Essen – einzig ein Glas Wein würde es noch besser machen.

Dienstag: es scheint die Woche der gesellschaftlichen Events zu werden. Am Abend will ich mich mit einem Bekannten aus der deutschen Botschaft in einem spanischen Restaurant treffen. Als ich fast auf dem Sprung bin, bekomme ich einen Anruf: Premierminister Ali Zeidan wurde aus dem Amt gewählt. Für alle Expats gilt selbstauferlegter Hausarrest. Wer weiß, ob irgendeine bewaffnete Gruppe mit der Entscheidung nicht übereinstimmt und jetzt anfängt zu randalieren. Laut Schätzungen gibt es in Libyen über eine Million Tonnen Waffen – mehr als das komplette Arsenal der Britischen Armee – und das meiste davon befindet sich nicht unter staatlicher Kontrolle.„Randalieren“ involviert also oft leichte und schwere Waffen, besonders beliebt sind RPGs.

Mittwoch: In der Nacht ist alles ruhig geblieben. In der Distanz war Geschützfeuer zu vernehmen, aber nichts außerhalb der Norm. Ich treffe mich am Abend mit ehemaligen GIZ Kollegen – wieder beim Inder. Der ist anscheinend ein Highlight in Tripolis. Gegen halb zehn ruft ein Bekannter an und berichtet von Schießereien in einem zentralen Stadtteil. Es ist unklar wer auf wen schießt, wir machen uns jedenfalls zügig auf den Heimweg.

Donnerstag: Die Nachricht des Tages: die amerikanische Botschaft veranstaltet am Freitag eine Party und wir haben es auf die Gästeliste geschafft! Abends treffe ich mich mit Kolleginnen von zwei anderen NGOs in einem hippen Restaurant-Café am Strand in unserem Stadtteil. Wir diskutieren die Party in der US Botschaft. Es herrschen fröhliche Aufregung und Skepsis gleichzeitig. Die Amerikaner haben höchstwahrscheinlich nicht nur Fruchtcocktails und Becks Blue organisiert… Andererseits fragen wir uns, ob die Party wirklich stattfinden wird, denn in Tripolis kann sich innerhalb von 24 Stunden alles ändern.

Freitag: Die Libyer haben frei, wir nicht (genug Arbeit und keine Freizeitmöglichkeiten). Meine Kollegin und ich tun so, als wären wir im Westen und fahren zu einem Coffeeshop, um dort mit unseren Laptops zu arbeiten. Leider funktioniert das WLAN nicht, aber wir genießen es trotzdem nicht im Büro zu sitzen und schlürfen Cappuccino. Gegen 13 Uhr kommt wenig überraschend ein Anruf. Die Party in der Botschaft ist abgesagt, weil die Zufahrtsstraße zur Botschaft (auf der sich auch das Hauptquartier der libyschen Armee befindet) gesperrt ist. Wir telefonieren mit Bekannten, die uns berichten, dass sich anscheinend mehrere Kampfwagen stadteinwärts bewegen. Laut Gerüchten plant die Armee die Zintanis aus der Stadt zu jagen (vielleicht jene Brigaden aus Zintan, die vor einigen Wochen drohten die Übergangsregierung gewaltsam zu stürzen, sollte sie nicht innerhalb von 5 Stunden abtreten?). Die Brigaden aus Zintan sind nach Misurata die zweitstärkste militärische Kraft im Land. Mir wird etwas mulmig und wir beschließen unser Sit-in vorzeitig zu beenden und zur Basis zurückzukehren. Kaum zu Hause angekommen, bittet unsere Chefin uns, unsere Sachen zu packen – für den Fall, dass in Tripolis der nächste Kleinkrieg ausbricht und wir spontan nach Misurata umsiedeln müssen. Wir verbringen den Nachmittag also mit Packen und den Abend vor dem Fernseher und verfolgen nebenbei Twitterposts. Nichts passiert.

Samstag: Auch am nächsten Morgen ist alles ruhig. Also treffen wir uns mit Freunden in der Stadt zum Mittagessen, spazieren durch die engen Gassen der Altstadt, über den Markt und über den Märtyrerplatz. Das ist die Krönung für uns in dieser Woche. Aus Mangel an Fahrern oder aus Sicherheitsgründen bekommen wir solche Gelegenheiten nur sehr selten. Eine Freundin, die uns begleitet, ist seit letzten Sommer in Tripolis und steht gerade zum ersten Mal auf dem symbolischen Platz im alten Zentrum. 

Sonntag: eine neue Arbeitswoche beginnt. Im libyschen Tagesgeschehen haben die Zwischenfälle der letzten Woche nicht viel höhere Brisanz als Nachrichten aus anderen Wochen. Ständig überschlagen sich die politischen und sicherheitrelevanten Meldungen. Aber für uns persönlich war dies definitiv eine Ausnahmewoche – durch viele Abende und Momente des Ausgleichs, der Unbefangenheit und durch Begegnungen mit Freunden und mit Libyern in ihrem Alltag, im Cafe, auf der Strasse oder auf dem Markt.