20. August 2016

„Die gestiegenen Flüchtlingszahlen sind der neue Normalzustand“ Interview mit dem Fluchtexperten Prof. Alexander Betts, University of Oxford

Die „Flüchtlingskrise“ beherrscht weiterhin die Schlagzeilen in Deutschland und Europa. ad hoc international hat mit Alexander Betts gesprochen, Leopold Muller Professor für erzwungene Migration und Internationale Beziehungen am Refugee Studies Centre in Oxford, über das Krisenmanagement in der EU und darüber, welche Chancen die Krise bietet, den internationalen Flüchtlingsschutz zu überdenken.

ad hoc: Die EU-Flüchtlings- und Asylpolitik ist von einer mangelnden Aufteilung der Verantwortung geprägt. Viele Initiativen zur Verteilung dieser Verantwortung unter den Mitgliedsstaaten sind gescheitert, wie zum Beispiel ein EU-weites Verteilungsystem für Flüchtlinge. Sie haben die Bedingungen untersucht, unter denen Staaten Verantwortlichkeiten teilen. Welche davon herrschen in der EU vor und welche fehlen noch?

Betts: Wollen wir uns mit dem Scheitern, Verpflichtungen aufzuteilen, beschäftigen, brauchen wir zunächst ein Verständnis über die Natur von Flüchtlingspolitik. Global gesehen und auch auf europäischem Niveau gibt es eine Machtasymmetrie zwischen Staaten: Lediglich zehn Staaten nehmen zwei Drittel aller Flüchtlinge weltweit auf. In Europa tragen Grenzstaaten wie Italien und Griechenland die größte Verantwortung; die weiter entfernten Staaten, wie das Vereinigte Königreich, können sich hinter Land oder Wasser verstecken, ihren Teil der Verantwortung auf Nachbarländer abwälzen. Wenn man sich Deutschland anschaut, dann kommt noch ein anderer Faktor hinzu – nämlich die Attraktivität eines Zielandes.

Heute ist das Problem, dass das gegenwärtige System in Europa zusammengebrochen ist. Wir haben eine größere Zahl von Menschen, die als Asylbewerber hier ankommen. Das Dublin-Modell zur Aufteilung von Verantwortlichkeiten wurde schlecht daran angepasst. Wir müssen vermeiden, dass das Schließen von Grenzen die einzige Form von Verantwortungsaufteilung ist. Die Regierungen müssen erkennen, dass sie besser dran sind, wenn sie gemeinsam statt alleine handeln und sie müssen zu dem Punkt kommen, an dem sie an gegenseitige Verpflichtungen in und jenseits der Flüchtlingspolitik gebunden sind.

ad hoc: Als Reaktion auf den Türkei-Deal hagelte es harsche Kritik. Was sind die Konsequenzen einer solchen Vereinbarung in Bezug auf das internationale Flüchtlingsregime?

Betts: Der EU-Türkei-Deal ist ein Desaster für das globale Flüchtlingsregime. Er ist illegal, undurchführbar und politisch nicht nachhaltig. Dieser „Einer-rein, einer-raus“-Deal beruht auf der Annahme, dass wir syrische Flüchtlinge in die Türkei zurückführen können – ein Land, das die EU als sicheren Drittstaat ansieht, das aber die Kriterien hierfür überhaupt nicht erfüllt. Wir müssen uns fragen, wie es sein kann, dass die EU Visa für 75 Millionen mehrheitlich muslimische Türken ausstellen will und gleichzeitig nicht bereit ist, eine Million Syrer mit erheblich größeren humanitären Bedürfnissen und Ansprüchen aufzunehmen. Das Abkommen ist herausfordernd. Ich erwarte, dass sich der Flüchtlingsdeal mit der Türkei schrittweise in Luft auflöst. Das Problem ist natürlich, dass sowohl die EU als auch die Türkei so viel politisches Kapital in diese Abmachung investiert haben, sodass sie darum kämpfen wer- den, ihn anzupassen und ihn funktionsfähig zu machen.

© Marcia C. Schenck

ad hoc: Sowohl die EU als auch einzelne Mitgliedsstaaten haben große Anstrengungen unternommen, ihre Grenzen zu sichern, sodass Menschen davon abgehalten werden, in die EU einzureisen. Einmal abgesehen von der tragischen menschlichen Dimension, kann eine solche Politik überhaupt effektiv sein?

Betts: Im Kontext der Globalisierung ist das, was mit Abschottung erreicht werden kann, sehr begrenzt, denn wir leben in einem Zeitalter der Migration. Es gibt etwa 250 Millionen Migranten auf der ganzen Welt. Gleichzeitig gibt es zwei Kräfte, die die Welt verändern. Eine davon ist fragile Staatlichkeit. Menschen müssen nicht einmal zwingend unter Verfolgung leiden. In Staaten wie Somalia und der Demokratischen Republik Kongo ist es ohnehin schon sehr schwer für sie, ihr Existenzminimum zu erhalten. Oftmals ist es für diese Menschen der letzte Ausweg, ihr Land zu verlassen. Die zweite Kraft ist Mobilität, ein gestiegenes Bewusstsein der in anderen Ländern vorhandenen Möglichkeiten. Miteinander kombiniert, führen Fragilität und Mobilität dazu, dass verzweifelte und schutzbedürftige Menschen über Grenzen hinweg ziehen. Die gestiegenen Zahlen sind keine Anomalie. Sie sind wahrscheinlich der neue Normalzustand. Wir müssen uns dieser Realität stellen, anstatt anzunehmen, dass wir die Tür einfach zu machen können.

ad hoc: Es zeichnet sich ein Konsens ab, dass jede effektive politische Maßnahme auch die zugrundeliegenden Fluchtursachen adressieren sollte. Wie erfolgreich sind die gegenwärtigen Ansätze dabei, die Gründe der Vertreibung anzugehen?

Betts: Die Flüchtlingspolitik ist historisch gesehen vernachlässigt worden, da dieser Bereich voller Herausforderungen steckt. Die einzige Möglichkeit, wie wir grenzüberschreitende Vertreibung verhindern können, ist die Konflikte zu adressieren, die zur Vertreibung führen. Dazu ist politischer Wille und ein funktionierender Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nötig, aber diese Bedingungen sind nicht erfüllt. Wir bemühen uns um die zweitbeste Lösung, nämlich Menschen mit Zufluchtsorten und humanitärer Hilfe zu versorgen, sobald sie ihre Heimatländer verlassen haben. Wir müssen unser Denken über Flüchtlinge neu strukturieren, ihre Fähigkeiten, Talente und ihre Ambitionen anerkennen. Wir brauchen bessere Daten und menschliche Geschichten, aber auch eine neue Sprache, um eine Politik der Zuflucht zu gestalten.

ad hoc: Zu oft stellen Politiker Flüchtlingshilfe als Nullsummenspiel dar, bei dem das Wohlbefinden von Flüchtlingen den Bürgern Kosten aufbürdet. Wie können wir aus diesem gedanklichen Muster ausbrechen?

Betts: Wir müssen unser Denken über Flüchtlinge neu strukturieren, ihre Fähigkeiten, Talente und ihre Ambitionen anerkennen. Wir brauchen bessere Daten und menschliche Geschichten, aber auch eine neue Sprache, um eine Politik der Zuflucht zu gestalten. Man kann sowohl Flüchtling als auch wirtschaftlicher Mitgestalter in einer Gastgesellschaft sein. Wir haben wichtige Daten in Ostafrika gesammelt, wo wir uns auf die wirtschaftlichen Bedingungen von Flüchtlingen in Uganda konzentrierten. Anders als viele Länder der Welt haben Flüchtlinge dort das Recht zu arbeiten und genießen Freizügigkeit. Wir haben herausgefunden, dass, wenn wir Flüchtlingen die Möglichkeit geben zu arbeiten, sie nicht nur sich selbst helfen, sondern auch ihren Teil zur Gastgesellschaft beitragen. 21 Prozent der Flüchtlinge in der Hauptstadt Kampala führen Unternehmen mit Angestellten; und 40 Prozent dieser Angestellten sind ugandische Staatsangehörige. In anderen Worten: Flüchtlinge schaffen Arbeitsplätze. Und wir sehen zunehmend mehr Untersuchungen, die diese Erkenntnis untermauern.

ad hoc: Als Direktor des „Humanitarian Innovation Project“ untersuchen Sie die Rolle von Technologie, Innovation und der Privatwirtschaft bei der Flüchtlingshilfe. Können Sie uns einige Beispiele nennen, die die Innovationskraft von Flüchtlingsgemeinschaften illustrieren?

Betts: In einem vor Kurzem veröffentlichten Bericht namens Refugee Innovation haben wir uns Beispiele eigener Erfindungen von Flüchtlingen aus Uganda, Kenia, Südafrika, Jordanien und den Vereinigten Staaten angeschaut. Wir fanden Beispiele von somalischen Flüchtlingen, die das Haupttransportsystem betreiben, welches die Flüchtlingslager mit der Hauptstadt verbinden. Im Za’atari Flüchtlingscamp in Jordanien sahen wir Beispiele von Containern und Zelten, ursprünglich bereitgestellt von den Vereinten Nationen, die später zu Möbeln und Ladenfronten umfunktioniert wurden. Immer wenn Dinge institutionell bereitgestellt werden, werden diese von den Flüchtlingen angepasst und verändert, sodass sie den Bedürfnissen der Gemeinschaft dienen. Dabei werden Wohnstrukturen in Geschäftsstrukturen umgewandelt. Diese Beispiele sollten uns inspirieren, unser Flüchtlingshilfemodell zu ändern – von einem, das auf institutioneller Bereitstellung beruht, in eines, das auf eine Selbstermächtigung der Flüchtlinge abzielt.

ad hoc: Professor Betts, wir danken Ihnen für das Gespräch.