9. August 2017

#DrehdeineStadt: die Verkehrswende von Unten?

Das Fahrrad als Transportmittel erfreut sich ungebrochener Beliebtheit. Es fällt in eine Linie mit dem Wunsch nach lebenswerten und menschengerechten Städten. In Berlin hat der „Volksentscheid Fahrrad“ einen Gesetzgebungsprozess in Richtung einer Fahrradstadt auf den Weg gebracht und stößt dadurch eine breite Bürgerbewegung zur Verkehrswende in Städten an – weit über Berlin hinaus.

Wer in Berlin Fahrrad fährt, weiß: Es gibt viel Licht, aber auch viel Schatten. Die morgendliche Fahrt durch mystische Morgennebel im Tiergarten, abends entlang der Spree oder im Pulk auf der Schönhauser Allee. Aber auch: Der gefährliche und beängsti- gende 40-Tonner, der neben dem Lenker langsam auf die eigene Fahrspur zieht. Denn sie ist oft eng und nur durch weiße Farbe markiert. Kinder sieht man hier selten.

Der Bau der autofreundlichen Stadt in den sechziger Jahren sah Radwege höchstens als Sozialpolitik für Schwache vor, nicht als ernst zu nehmenden Transportweg. Diese Sichtweise ändert sich derzeit fundamental. Die Radverkehrszahlen in Berlin zeigen steil nach oben. An der Oberbaumbrücke wurde kürz- lich die Marke von 20 000 Radfahrern täglich geknackt – dies entspricht dem Verkehr einer Hauptstraße. Trotzdem ent- wickelt sich die Infrastruktur kaum weiter. Neue Radspuren werden nur mit Farbe „markiert“, viele Radwege sind schmal und voller Baumwurzeln.

Eine Mahnwache nach einem tödlichen Unfall auf dem Mehringdamm in Berlin im vergangenen Frühjahr. Bild: Changing Cities e.V.

An einem Donnerstagabend an der Technischen Universität Berlin sitzen um die 30 Menschen zusammen, die dies ändern wollen. Sie organisieren sich im „Volksentscheid Fahrrad“ und möchten sicher und komfortabel mit dem Rad von A nach B kommen. Es sind nicht die schnittigen Kurier- und Rennrad- fahrer*innen, sondern Bewohner*innen der Stadt aller Alters- und Bildungsschichten: ein frisch gebackener Abiturient, Studierende, ein promovierter Ingenieur, eine Seniorin, die schon Häuser besetzt hat. Erfahrene Aktivist*innen oder Verkehrsplaner*in- nen teilen ihr Wissen mit neuen Gesichtern.

Der „Volksentscheid Fahrrad“ möchte Berlin zur fahrrad- freundlichen Metropole machen. Jede*r von 8 bis 88 soll sicher mit dem Fahrrad unterwegs sein können. So werden etwa zwei Meter breite, baulich getrennte Fahrradwege an allen Hauptstraßen gefordert, ein 350 Kilometer umfassendes Netz aus Fahrradstraßen oder eine verbindliche Verbesserung der Sicher- heit an gefährlichen Kreuzungen. Ein Gesetz soll juristische Verbindlichkeit bringen. In Berlin wurden vergangenes Jahr 17 Radfahrende getötet. Von der Politik gab es kaum mehr als Lippenbekenntnisse.
Eine Kerngruppe besteht seit Herbst 2015. Damals formierte sich der Volksentscheid mit einem Volksbegehren zu einem Radgesetz. In der ersten Abstimmungsrunde wurden innerhalb von vier Wochen 100 000 Unterschriften gesammelt, statt wie erforderlich 20 000 in sechs Monaten.
Der Radentscheid schlug im Stadtgespräch ein wie sonst kaum ein Thema. Zahlreiche Demos und Aktionen, von Mahnwachen nach Unfällen über das Auslegen des „Roten Teppichs für Radfahrer“ auf Hauptverkehrsstraßen bis hin zum Radeln in die Spree unter dem Motto „Der Klimaschutz geht Baden“: Die Initiative versteht es, den Medien die richtigen Bilder zu liefern und das Thema präsent zu halten. Fast ein Drittel der Berliner*innen nutzt laut Forsa-Umfrage bereits jetzt täglich das Fahrrad, mehr als zwei Drittel der Befragten befürworten den Ausbau der Radwege. Selbst der Verkehrsclub ADAC fordert plötzlich Radwege an Hauptstraßen.

Die Berliner Sektion des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) betreibt seit Jahrzehnten Gremienarbeit für bessere Bedingungen für Radfahrer, doch die aktivistischen Methoden des Volksentscheides haben eine neue Geschwindigkeit in die Radverkehrsdebatte gebracht.
Seit Frühjahr 2017 verhandelt die Rot-Rot-Grüne Koalition mit den Aktivist*innen – und einem ADFC-Vertreter – ein Radgesetz. Auf Senatsseite allerdings wurden Fristen gekippt. Das Versprechen, bis Juni ein Radgesetz zu haben, ist gescheitert. Der Prozess wird als festgefahren bezeichnet, und der Volksent- scheid hat neue Aktionen angekündigt.
Der dänische Stadtplaner Jan Gehl lehrt, dass lebenswerte Städte menschliche Begegnungen fördern. Das Fahrrad sei daher das ideale Verkehrssystem für die Stadt. Kopenhagen wurde nicht trotz, sondern wegen seiner massiven Investitionen in den nichtmotorisierten Verkehr zu einer der attraktivsten Städte der Welt. Auch die Klimaziele machen mehr Radverkehr zwingend notwendig. Das Ziel einer lebenswerten Stadt wird von immer mehr Akteuren aus verschiedensten Bereichen verfolgt. In fahrradfreundlichen Netzwerken organisieren sich seit 2017 einzelne Bürger*innen, Lokalgruppen des ADFC, Geschäfte oder Kiezgruppen, die an einem Strang ziehen, um ihre Stadt lebenswerter zu machen. Jede*r ist eingeladen mit- zumachen, womit eine breite Bewegung im Windschatten des Volksentscheids entsteht. Der landesweite Volksentscheid selbst entspringt dem ersten seiner Art, dem „Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln“.
Bundesweit ist das Interesse am Berliner Modell riesig, andere Städte formen eigene Initiativen, Bamberg hat bereits seinen eigenen Volksentscheid. Der Volksentscheid Fahrrad bietet Barcamps in anderen Städten wie Hamburg oder Stuttgart an unter dem Motto „#DrehdeineStadt“. Der Trägerverein hat derweil seinen Namen geändert zu „Changing Cities“ – die (Verkehrs-)Wende aus Bürgerhand.