2. September 2014

Flüchtlinge in Griechendland – und die Tragödie geht weiter

Gestatten Sie einen gedanklichen Ausflug, um zu illustrieren, wie weit sich die Realität in Europa von einst erstrebten Idealen entfernt hat:

Die Europäische Union entstand nach den Erfahrungen zweier schrecklicher Kriege und als Idee einer besseren Welt. Der EU zugrunde liegt nicht nur die Idee des Wohlstands, des Friedens und der Solidargemeinschaft, sondern über die EU hinaus auch eine humanistische und humanitäre Idee, die unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Gründung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mündete.

Der humanitäre Anspruch ist offenbar so stark, dass Deutsch­ land es wagte, einen Teil des Schutzes der Menschenrechte zu relativieren: Das Grundrecht auf Asyl gilt nach Art. 16a Abs. II des Grundgesetzes für denjenigen nicht mehr, der „aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grund­ freiheiten sichergestellt ist“. Deutschland geht dabei von der Annahme aus, dass die sogenannten Dublin­ Regelungen zu­ friedenstellend funktionieren, wonach jeder Asylsuchende in dem EU­Mitgliedsstaat Asyl beantragen kann, in dem er erst­ mals europäischen Boden betritt; und dass die humanitäre Welt in diesen Ersteintrittsstaaten in Ordnung ist.

Das Gegenteil ist der Fall. Dies zeigt der Blick auf die Flücht­linge in Griechenland, und die Verantwortung trägt nicht alleine Griechenland, sondern auch die Europäischen Union und ihre Mitgliedstaaten. Es handelt sich um ein Systemversagen.

Dies erkennt man deutlich auf der Insel Lesbos, einer der schöns­ten, authentischsten und grünsten Inseln Griechenlands: Hier kommen fast täglich Flüchtlinge an. Sie werden von Schleppern von der nur etwa 15 km weit entfernten westtürkischen Küste über das Meer gebracht. Mal sind es einige wenige, an manchen Tagen sind es Hunderte. Sie gelangen mit Schlepperbooten oder – wenn die Schlepper sie auf dem offenem Meer zurück­ lassen – auf Autoreifen oder schwimmend an die Strände der Insel. Andere können von der Küstenwache oder Fischern nur noch tot geborgen werden, unter ihnen viele Kinder. Allein in den letzten anderthalb Jahren zählte man fast 100 Tote. Im März dieses Jahres waren es wieder sieben Leichen, darunter ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen aus Syrien.

Die Polizei liest die Neuankömmlinge aus Bangladesch, Pakistan, Syrien und Afghanistan von den Stränden der Insel auf. Egal ob Winter oder Sommer, egal wie hungrig, durstig oder durchnässt die Menschen sind, werden sie zunächst in die „Erstaufnahme“ gebracht, das heißt auf dem nackten Asphalt der Hafenmole abgesetzt. Sie liegt direkt am Eingang des pittoresken Hafens der Inselhauptstadt Mytilini. Zu zwei Seiten eingeschlossen von hohen Zäunen, von zwei Seiten begrenzt durch das Hafen­ becken. Die Flüchtlinge sind nur von zwei primitiven Zelten geschützt. Sonst gibt es nichts: keine Decken, keine Betten, keine Tische, keine Stühle, keine Hygieneartikel wie Seife, Toilettenpapier oder Windeln. Es gibt kein Trinkwasser und keine Nahrungsmittel.

Ein erschöpfter Flüchtling am Strand von Fuerteventura. © no border network

So lässt man sie verharren, bis zu 24 Stunden. Danach erhalten sie Papiere – Syrer erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für 18 Monate, die anderen müssen das Land innerhalb weniger Wochen verlassen. Anschließend öffnen sich die Tore und die Menschen verschwinden. Sie sind nun entweder auf sich allein gestellt oder sie werden in die Polizeidienststelle von Mytilini oder in das Lager beim Dorf Moria gebracht.

In die Lager in Griechenland jedoch will niemand: Der UNHCR hat Griechenland wiederholt zum Katastrophengebiet erklärt. NGOs berichten von um das zig­Fache der Kapazitäten über­ belegten Lagern, defekten Toiletten, unmenschlichen Hygiene­bedingungen und von sich ausbreitenden Krankheiten wie Tu­berkulose, Krätze, Magen­- und Darminfektionen, aber auch von Traumatisierungen. Eine gesundheitliche Versorgung ist häufig gar nicht, in jedem Fall aber nicht systematisch vorhanden.

Viele Flüchtlinge schlagen sich nach Athen durch und hoffen, von dort mit der Hilfe von Schleusern weiter in ein besseres Europa vorzudringen. Wie viele diese Route einschlagen und wie viele von ihnen unversehrt und lebend ankommen ist unbekannt.

Andere finden Unterkunft in den häufig von NGOs organisierten Flüchtlingsunterkünften in Athen. Sie sind von deprimierender Einfachheit, aber besser als die meisten Alternativen. Allerdings betragen ihre Kapazitäten nur etwa 1 000 Plätze. Die Mehrzahl der Flüchtlinge – darunter zehntausende unbegleiteter Minder­jähriger – dürfte hingegen in der Obdachlosigkeit landen. Hier sind sie noch schutzloser als ihre Schicksalsgenossen den zum Teil tödlichen Hetzjagden der Anhänger der „Goldenen Morgenröte“ ausgesetzt, der rechtsradikalen faschistischen Partei in Griechenland. Die überforderte Nachbarschaft, deren Stadtteile zu Horten des Elends werden, bietet den Opfern wenig Schutz. Viele Menschen wären froh, wenn die Flücht­linge in den Parks, auf den Gehwegen, in den Geschäfts­- und Hauseingängen fort wären.

Die Regierung in Athen kündigt zwar regelmäßig Verbesse­rungen an, aber sie ist mit der Situation überfordert. Welche Regierung wäre dies nicht angesichts der finanziellen, wirt­schaftlichen und politischen Krise in Griechenland?

Die wirtschaftliche Lage ist desolat, die Jugend ohne Perspektive, die Arbeitslosenquote liegt bei über 27 Prozent und die Selbst­mordrate ist seit Beginn der Krise drastisch gestiegen. Zudem hat die gegenwärtige Regierung nur noch eine hauchdünne Mehrheit von zwei Stimmen im Parlament. Die „Goldene Morgenröte“ kam bei der jüngsten Europawahl auf über neun Prozent und ist damit drittstärkste politische Kraft.

Als wären dies nicht genug Belastungen, zählt Griechenland seit vielen Jahren dank der Dublin­-Regelungen zu den Haupt­ anlaufstellen von Flüchtlingen. Das Land hat eine Bevölkerung von 11 Millionen Menschen, davon etwa eine Million Mi­granten – etwa die Hälfte davon sind illegal. Allein im Jahr 2012 kamen nach Frontex­Angaben 37220 Migranten über das östliche Mittelmeer nach Griechenland, in den Jahren zuvor waren es sogar noch mehr. Zum Vergleich: Nach Italien kamen im Vergleichszeitraum weniger als halb so viele Migranten. Der Strom ist groß aber unregelmäßig, und die Routen sind so vielfältig, dass sich die Behörden bezüglich der Kapazitäten der Aufnahmelager nur schwer einstellen können. Seit Griechenland an seiner nordöstlichen Grenze zur Türkei eine 10,5km lange Mauer errichtet und die Grenz­ kontrollen verschärft hat, ist die Seeroute wieder attraktiver geworden und damit auch die Inseln Lesbos, Chios, Samos, Thassos und Farmakonisi.

Durchgehend scheinen die Kapazitäten der griechischen Lager zu eng kalkuliert zu sein. Menschenrechtsorganisationen be­schreiben die Situation als katastrophal. Viele Lager tragen in der Zwischenzeit berüchtigte Namen für die dort herrschenden Bedingungen, wie der 2010 in der ZEIT beschriebene und nun­ mehr geschlossene „Kinderknast von Lesbos“ in Pagani. Die alarmierenden Appelle ob der erschütternden Bedingungen an die EU­-Mitgliedstaaten von ProAsyl, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen und UNHCR verhallen oftmals ungehört. Jedenfalls bleiben sie ohne hinreichende Konsequenz.

Zwar gibt es Mittel aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds, doch entweder reichen diese nicht oder sie kommen nicht von Athen an ihren Bestimmungsort zu den Flüchtlingen. Diese benötigen Nahrung, Medikamente, Kleidung und psycholo­gische Betreuung. Ganz zu schweigen von Bildungsangeboten für die Kinder, die zum Teil über viele Monate in den Lagern bleiben. In Deutschland sind diese dank vorhandener Mittel und Strukturen eine Selbstverständlichkeit.

Die Schlussfolgerungen all derer, die sich näher mit der Situation der Flüchtlinge in Europa befasst haben, sind gleich: Die euro­päische Flüchtlingspolitik mit den Dublin-­Regelungen ist mehr als unbefriedigend.

Was aber sind die Konsequenzen? Sollen alle Flüchtlinge auf alle EU­-Mitgliedstaaten anteilig nach Bevölkerungsgröße oder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verteilt werden? Der Ge­danke ist naheliegend, aber angesichts der innenpolitischen In­teressenlage der meisten EU­-Binnenstaaten wenig realistisch. Gleichzeitig jedoch liegt es im Interesse aller EU-­Mitglied­staaten, die solidarischen Anstrengungen zu forcieren. Dies nicht nur aus flüchtlingspolitischen Überlegungen (denn mit dem status quo leben die EU­-Binnenstaaten ja vergleichs­weise bequem), sondern vielmehr, weil der Flüchtlingsstrom nach Griechenland zu einer weiteren Stärkung rechtsextremer Kräfte und damit zu einer Destabilisierung der gesellschaft­lichen und politischen Lage führt. Die jetzige griechische Regierung muss nicht nur in finanzieller, sondern auch in orga­nisatorischer Hinsicht im Umgang mit Flüchtlingen stärker entlastet werden. Dies gilt umso mehr, als es kein griechisches, sondern ein europäisches Problem ist, ausgetragen in den Staaten der EU­-Außengrenzen.

Eine kurzfristig umsetzbare und pragmatische Lösung wäre die Einrichtung mehrerer kleiner, mobiler europäischer Beratungs­ und Unterstützungseinheiten zu den aktuellen Maßnahmen des European Asylum Support Office (EASO): Unter Berück­sichtigung der nationalen Zuständigkeit für innenpolitische Fragen, in enger Abstimmung mit der griechischen Regierung und in Zusammenarbeit mit dortigen Behörden, könnten diese in das Gebiet mehrerer Ägäis­Inseln entsandt werden. Aufgaben des multinationalen Expertenteams wären unter anderem:
− die Flüchtlingsaufnahmekapazitäten zu evaluieren und die Vor­-Ort­-Strukturen zu stärken;

− Überbelegungen nach Athen und Brüssel zu melden, und bei Bedarf flexibel Kapazitäten mit EU­-Mitteln ausbauen zu helfen; − Beobachtung struktureller, organisatorischer, medizinischer, hygienischer, sozialer oder sonstiger Defizite und Beratung der Einrichtungen vor Ort;
− schnelle, unbürokratische Bedarfsmeldung und Anforderun­gen nach Athen und Brüssel zur Koordinierung eines unmit­telbaren, zweckgebundenen Mittelflusses an die Flüchtlings­einrichtungen vor Ort.

Damit wäre zugleich eine bessere Kontrolle über die Zuschreibung und die Verwendung der Mittel aus dem EU­Flüchtlingsfonds ermöglicht und die Einhaltung der humanitären Mindest­standards sichergestellt.

Die Task­Force könnte aus einem Sozialarbeiter, einem Mediziner oder Psychologen und einem Berater für Verwaltungsfragen in Migrationsangelegenheiten bestehen und müsste von Über­setzern begleitet sein. Durch ihre Mobilität wäre gewährleistet, dass sie flexibel auf die unregelmäßigen Flüchtlingsströme und ­-routen reagieren kann.

Ein derartiges (Pilot­)Projekt würde Griechenland in organi­satorischer und finanzieller Hinsicht erheblich entlasten. Zugleich könnte Europa seinen solidarischen Gedanken im Bereich der Flüchtlingspolitik wiederbeleben und beweisen, dass es seine humanitären Werte ernst nimmt.