19. Oktober 2014

Grenzen ziehen – Demokratie zwischen Menschenrechten und Volkswillen

Die Grenzen zwischen nationaler Autorität und internationalen Abkommen überschneiden sich nicht selten. Muss oder darf sich ein Staat durch Kontingente gegen die Einwanderung „fremder Massen“ schützen? Und wenn ja, wer schützt dann die Asyl­suchenden und wo? Stefanie Rinaldi diskutiert diese Fragen am Beispiel der Schweiz.

Seit dem 9. Februar 2014 wird in der Schweiz heftig diskutiert. Wie so oft entbrannten die Diskussionen um die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative erst richtig nach Bekanntgabe des Abstimmungsresultats. Die Gegner der Initiative erwach­ten jäh aus ihrem Dornröschenschlaf und organisieren seitdem Demonstrationen, um für eine offene und tolerante Schweiz zu werben. Ohne konkrete Lösungsvorschläge zu präsentieren, forderten Befürworter hingegen die umgehende Umsetzung. Nun stehen Schweizer Diplomaten vor der schwierigen Auf­ gabe 50,3 % Ja-­Stimmen zur Einführung von Höchstzahlen und Kontingenten für Aufenthaltsbewilligungen von Ausländern auf Verfassungsebene zu erklären – insbesondere gegenüber den EU­-Mitgliedstaaten. Gemäß der Initiatorin der Initiative, der Schweizerischen Volkspartei (SVP), liegt das erklärte Ziel darin, die Landesgrenzen wieder zu stärken und die schweiz­erische Bevölkerung vor fremden Massen zu schützen. Doch welche Grenzen schützen eine Demokratie vor der Tyrannei der Mehrheit?

© Sascha Erni

Eine solche Grenze findet sich im Völkerrecht. Die Schweiz hat sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention als auch die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN­-Antifolterkon­vention ratifiziert. Dies bedeutet, dass Ausländer in der Schweiz Anspruch auf Aufenthalt erheben können, sofern sie Schutz brauchen oder ihr Recht auf Familie geltend machen möchten. Der durch die Abstimmung verabschiedete neue Verfassungs­artikel schließt in den festzusetzenden Höchstzahlen ausdrück­lich auch Asylsuchende und Flüchtlinge ein. Völkerrechtliche Verträge, die mit dieser Bestimmung in Widerspruch stehen, müssen innerhalb von drei Jahren neu verhandelt oder angepasst werden. Die Masseneinwanderungsinitiative tangiert folglich nicht nur bilaterale Abkommen mit der EU, sondern auch Schlüsselkonventionen auf europäischer und internationaler Ebene. Denn ein eng definiertes Kontingenzsystem widerspricht diesen Abkommen: Entscheide über Aufenthaltsbewilligungen wüeden von Höchstzahlen und nicht von individuellen Kriterien abhängig gemacht.

Solche Kontingente können auch zwin­gendes Völkerrecht verletzen, wenn sie dazu führen, dass Personen in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Folter oder andere unmenschliche, erniedrigende Behandlungen drohen. Ironischerweise ist dieses sogenannte Prinzip des non- refoulement auch in der Schweizerischen Bundesverfassung verankert. Wenn die Schweiz künftig ein Kontingenzsystem auch auf schutzsuchende Personen anwenden und diese ab­ schieben würde, würde die Schweiz ihre eigene Verfassung verletzen.

Das Schweizer Szenario erinnert an eine Aussage Winston Churchills: „Das größte Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler“. Fast wäre ich geneigt, Churchill zuzustimmen. Doch Demokratie bedeutet nicht, dass eine Gruppe von Menschen frei jeglicher Grenzen entscheiden kann. Sie ist nicht absolut. Dies ist auch der Fall, wenn sich auf Verfassungsebene Wider­ sprüche finden und es in einem demokratischen Staat wie der Schweiz vorkommt, dass menschenrechtliche Abkommen in Frage gestellt werden. Die Demokratie selbst wird durch die Menschenrechte geschützt und könnte ohne sie kaum fortbe­stehen.