22. November 2012

Health in all Policies

„Lebanon, the floor is yours!“ spricht der Vorsitzende der Versammlung bedeutungsschwer in sein Mikrophon. Parallel wird sein Satz in die verschiedenen Amtssprachen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übersetzt. Zusammen mit Kollegen habe ich mich auf die letzten freien Plätze des Saales gesetzt um die Verhandlungen zu verfolgen. Regierungsvertreter aus der ganzen Welt sind nach Genf gereist um einen globalen Monitoringplan für die Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCDs) zu verabschieden. In der Mitte des großen Saales steht eine Art länglicher Ampelstab der unerbittlich von grün über gelb nach rot umschaltet. Der Zweck dieser Einrichtung ist es, den unzähligen Rednern ihre gewährte Redezeit anzuzeigen. Meistens klappt es ganz gut. Gelegentlich wünscht man sich einen Professor Scharioth und eine kleine Einführung zum Halten kurzer und prägnanter Reden.

Nachdem man sich an das erhebende Gefühl gewöhnt hat, hier mit der Welt zusammen zu sitzen, schält sich aus den Diskussionen die Herkulesaufgabe vor der diese Versammlung steht. Ein Rahmenwerk zu entwickeln, das unter anderem sowohl für skandinavische als auch afrikanische Länder sinnvolle und umsetzbare Ziele für die nächsten acht Jahre vorgibt. Die Verhandlungen gehen regelmäßig bis spät in die Nacht.

Ich bin also in Genf (oder Mercator-City?) angekommen, um die WHO, das Mutterschiff der Gesundheit  wenn man so will, und dessen Arbeit kennen zu lernen. Dabei deutet sich der internationale Alltag schon bei der Einfahrt in den Genfer Hauptbahnhof ‘Gare Cornavin’ an. Sämtliche Ankündigungen im Zug sind dreisprachig. Ein Sprachenurwald, der mich seit Beginn meiner Stage begleitet. Mein Team: Ein Gruppenleiter aus Hong-Kong, daneben zwei Australier, eine Französin, ein Finne, eine Österreicherin und ein Ghanaer. Ich bin begeistert. Und muss an die Züge und Karussells denken, von denen Jasper Tjaden (3. Mercator Jahrgang) geschrieben hat. Wenn Karrieren in internationalen Organisationen Züge sind, dann fahren sie wohl in Genf ab. Oder kommen hier an. Auf jeden Fall dreht sich das Karussell hier schnell.

Zurück zur WHO.

Die Hauptaufgabe unseres Teams ist die Vorbereitung der ‘8th Global Conference on Health Promotion’ in Helsinki im Juni 2013. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Thema ‘Health in all Policies’. Frei übersetzt vielleicht: Gesundheit in allen Politikbereichen. Obwohl man schon vor über 20 Jahren [1] erkannt hat, dass Gesundheit neben den berühmten Lifestyle-Faktoren (Rauchen, ungesunde Ernährung, mangelnde Bewegung und übermäßiger Alkoholkonsum) besonders auch von Faktoren wie ‘Sozialgesetzgebung, Steuerwesen, Umwelt-, Transport- und Bildungspolitik’ abhängt, ist diese Einsicht bis heute nicht wirklich in den verschiedenen Regierungen angekommen.

Diese Vogelperspektive hat auch für mich etwas Ernüchterndes und rückt meine ärztlichen Berufsvorstellungen ein wenig zurecht. Es sind also nicht nur übermüdete Ärzte in der Notaufnahme, Schockpatienten intubierend, welche die Volksgesundheit verbessern, sondern auch (oder vor allem?) Bildungs-, Verkehrs-, Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialministerien?

Nach dieser Horizonterweiterung stellt sich mir die Frage welche Rolle Ärzte in diesem Kontext spielen können oder müssen. In dem in Fachkreisen bekannten kanadischen Kompetenzkatalog CanMed[2] wird detailliert auf die Rolle von Ärzten als Gesundheitsfürsprecher eingegangen. Man liest dort von Gesundheitsfürsprechern für individuelle Patienten, Gemeinschaften und die Gesellschaft im Ganzen, von Gesundheitsförderung und Mitgestaltung von Gesundheitspolitik in allen Sektoren. Interessanterweise gibt es einen entsprechenden Kompetenzkatalog für Ärzte in Deutschland bisher nicht. Warum eigentlich?

Wie oft haben wir die gesundheitlichen Folgen von europäischer Migrationspolitik während unserer Summer School besprochen? Oder Gesundheit als Menschenrecht diskutiert? Welche Konsequenzen haben staatliche Sparmaßnahmen für die Gesundheit der Bevölkerung?

Der oft zitierte mercatorsche Leitgedanke, dass die großen Aufgaben unserer Zeit (wie zum Beispiel Klimawandel, nukleare Proliferation und Gesundheit für alle) nicht mehr national sondern nur international gelöst werden können, muss also um das Wort ’interdisziplinär’ ergänzt werden.

Die Konferenz in Helsinki soll dafür starke Impulse setzen, die von allen WHO-Mitgliedsländern aufgenommen werden können. Die Arbeit in  meinem Team, der Health Promotion Unit (Gesundheitsförderung als zentrale Strategie zur Prävention von nichtübertragbaren Krankheiten), ist daher in vollem Gange. In der kommenden Woche steht ein Treffen des wissenschaftlichen Beirats der Konferenz zusammen mit dem finnischen Gesundheitsministerium an und muss vorbereitet werden.  Auf einmal schreibe ich Emails nach Peru, Washington, Qatar, Nairobi und Lima. Die Welt wird wieder klein.

Auf den Gängen, bei Vorträgen und Seminaren diskutieren wir unzählige Probleme und Herausforderungen vor denen diese Konferenz steht. Wie schafft man es politischen Willen zu erzeugen? Wie kann man den privaten Sektor integrieren? Welche Rolle genau spielt der Agrarsektor? Wie übersetzt man eigentlich ‘Health Impact Assessment’ ins Deutsche? Könnte es auch eine Art arabischen Frühling für Gesundheit geben? Global? Jeden Tag werden die Fragen eher mehr als weniger. Obwohl meine internationale Karriere eigentlich noch gar nicht begonnen hat, ist mir schon schwindlig.

Bevor ich noch eine Fallstudie aus dem Sultanat Oman korrekturlese, mache ich mich schnell auf den Weg nach Frankreich, um meine Wocheneinkäufe zu erledigen (Genf ist tatsächlich teuer). Es lebe Europa.



[1] WHO (1986). OTTAWA CHARTER FOR HEALTH PROMOTION. Health Promotion International, 1(4), 405.

[2] Frank, J. (Ed.). (2005). The CanMEDS 2005 physician competency framework. Better standards. Better physicians. Better care.: Ottawa: The Royal College of Physicains and Surgeons of Canada.

Halloween 2012 in der WHO: Ein Ausflug ins operative Geschäft