14. August 2016

„Ich habe den Friedensprozess quasi als Lokomotive gezogen“ Interview mit der ehemaligen OSZE-Sondergesandten Heidi Tagliavini

// © User:modo_protegido/Flickr

Die Schweizer Spitzendiplomatin Heidi Tagliavini wurde im Juni 2014 vom damaligen OSZE-Vorsitzenden und Schweizer Außenminister Didier Burkhalter zur Sondergesandten der OSZE für die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ernannt. Ein Jahr später legte sie dieses Amt nieder, nachdem die von ihr moderierte Trilaterale Kontaktgruppe das Minsker Protokoll und das Minsker Maßnahmenpaket unterzeichnet hatte und unter ihrer Leitung ein Friedensprozess mit Arbeitsgruppen zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ausgearbeitet und lanciert wurde. ad hoc international hat mit Heidi Tagliavini gesprochen über den Konflikt, die Rolle der OSZE und Europa.

ad hoc: Frau Tagliavini, warum sollte sich Europa für den Konflikt in der Ost-Ukraine interessieren?

Tagliavini: Den Ukrainekonflikt aus den Augen zu verlieren, wäre gefährlich. Meine Erfahrung aus anderen Konflikten, z. B. aus dem Tschetschenienkrieg in 1995, zeigt, dass ungelöste Konflikte, die aus irgendeinem Grund plötzlich in den Hintergrund geraten, ein großes Potential zur Eskalation haben. Außerdem geht Europa dieser Konflikt ganz direkt an, da er die Sicherheit in Europa gefährdet.

ad hoc: Was ist Ihr persönlicher Bezug zur Ukraine?

Tagliavini: Durch mein Studium der russischen Literatur habe ich verschiedene Schriftsteller der heute unabhängigen Länder der ehemaligen Sowjetunion gelesen, so auch ukrainische, die aber auf Russisch schrieben. Bereits als Studentin war ich in den Siebzigern in der Ukraine und dann 2009/2010 nochmals als Leiterin der OSZE-Wahlbeobachtungsmission. Mitten im Winter reisten damals fast 1 000 Wahlbeobachter in die Ukraine. So eine Wahlbeobachtung ermöglicht in kurzer Zeit – ich war dort etwa drei Monate – einen sehr guten Zugang zum kultu- rellen und politischen Geschehen eines Landes.

ad hoc: Zu welchem Zeitpunkt hat die OSZE Sie nach Kiew gerufen?

Tagliavini: Anlässlich des 70-jährigen Gedenkens an die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 2014 schuf Bundeskanzlerin Angela Merkel das sogenannte Normandie-Quartett mit dem französischen Staatspräsidenten Hollande, dem russischen Präsidenten Putin und dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko und der Bundeskanzlerin selbst, das eine Lösungssuche im Konflikt ermöglichen und von der OSZE geleitet werden sollte. Daraus entstand quasi über Nacht die Trilaterale Kontaktgruppe.

ad hoc: Was war Ihre Rolle in der Bewältigung der Krise?

Tagliavini: Manche haben meine Arbeit als Mediation, andere als Moderation bezeichnet. Ich habe mich manchmal als so etwas wie eine Lokomotive gefühlt. Ich habe den Friedensprozess quasi gezogen und versucht, alle zu motivieren, zur Verbindlichkeit anzuhalten, eine Sache bis zum Schluss zu führen. Nicht alle Beteiligten waren gleich motiviert und handlungsorientiert.

ad hoc: Welche Rolle übernahm Deutschland in den Verhandlungen?

Tagliavini: Ein Verdienst von Angela Merkel war sicher, dass sich Russland an der Kontaktgruppe beteiligte, obwohl sich das Land nie als Partei im Ukraine-Konflikt verstand. Sie hatte auch als eine der wenigen westlichen Regierungschefs sehr direkte fachliche Kenntnisse.

ad hoc: Wie verändert der Konflikt die OSZE und die Sicherheitslage in Europa?

Tagliavini: Mit den beiden Instrumenten – der zivilen Beobachtermission und der Trilateralen Kontaktgruppe – erfüllt die OSZE ihr ursprüngliches Mandat zur Einhaltung der Menschenrechte sowie zivilen Rechte und der Sicherheit in Europa auf geradezu ideale Weise. Diese Aufgabe hat die oft zu Unrecht verkannte Regionalorganisation wieder ins Bewusstsein der Menschen gebracht. Denn in der Ukraine geht es um Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Gleichzeitig haben die EU und die USA die Federführung der OSZE im Wesentlichen anerkannt. Die OSZE war auch sehr schnell zur Stelle, als der Konflikt ausbrach; das war außerordentlich wichtig. Der schreckliche Flugzeugabsturz im Juli 2014 in dem von Rebellen kontrollierten Gebiet hat dann allerdings die Fronten sehr verhärtet. Nach diesem Vorfall begann der Westen, die Sanktionen gegen Russland umzusetzen. Und das hat den Konflikt auf eine neue, lange nicht mehr gekannte Ebene des gegenseitigen Unverständnisses und Misstrauens gehoben.

ad hoc: Was ist Europa eigentlich?

Tagliavini: Das ist eine interessante Frage zum jetzigen Zeitpunkt. Die Länder mit einer sowjetischen Vergangenheit haben eigentlich eine europäische Vergangenheit. Denn der Marxismus, auf den sich die sowjetischen Führer beriefen, ist ja doch etwas sehr Europäisches. Und über Jahrhunderte war die Geschichte Russlands auf Europa ausgerichtet gewesen. Jeder Russe zitiert Ihnen spielend drei bis vier europäische Schriftsteller, aber dasselbe gilt kaum bei der chinesischen, indischen oder iranischen Literatur. Als die Sowjetunion auseinander fiel, entschied die OSZE, dass Europa gemäß der Helsinki-Schlussakte von 1975 von Vancouver bis Wladiwostok reicht. Heute könnte es schwie- riger sein, dazu einen Konsens zu finden.

ad hoc: Wie geht es weiter mit dem Konflikt in der Ost-Ukraine?

Tagliavini: Leider wächst das Misstrauen auf beiden Seiten und die Positionen verhärten sich immer mehr; das ist typisch, je länger ein Konflikt dauert. Niemand will den ersten Schritt machen beim Waffenabzug. Da konnten wir bei den OSZE- Verhandlungen noch lange darüber diskutieren, ob die Kontaktlinie jetzt fünf Meter weiter östlich verläuft oder nicht. Nur der Wille zum Frieden kann zur Umsetzung bewegen.

adhoc: Liebe Frau Tagliavini, ich danke Ihnen für das Gespräch.