9. Februar 2014

„Im Zeichen der Humanität müsste man großzügiger sein“ – Interview mit Burkhart Veigel, Fluchthelfer

Burkhart Veigel, 76, ist Arzt, ehemaliger Fluchthelfer an der deutsch­deutschen Grenze, Autor und Pragmatiker. Er hat Pässe gefälscht, Tunnel gegraben, Flüchtlinge im Armaturenbrett eines umgebauten Cadillacs versteckt und Fluchten so genau geplant wie kaum ein anderer. Etwa 650 Menschen verhalf er zur Flucht aus der ehemaligen DDR. Für sein Engagement für Freiheit erhielt er 2012 das Bundesverdienstkreuz am Bande.

ad hoc: Herr Veigel, welche Eigenschaften braucht ein Fluchthelfer?

Veigel: Man muss ein Bedürfnis haben, sich für Grundwerte ein­ zusetzen. Für mich war immer wichtig, dass man in Wahrheit und Gerechtigkeit lebt und die Freiheit hat zu denken, zu sagen und vielleicht auch zu tun, was man will.

ad hoc: Fluchthelfer an der Berliner Mauer hatten zum Teil ein negatives Image.

Veigel: Ab Sommer 1963 hatte der Berliner Senat zwischen den frühen, guten und idealistischen Fluchthelfern unterschieden und den späteren, bösen und kommerziellen, die mit ihrer Hilfe Geld verdient haben. Für mich war immer entscheidend, ob ein Fluchthelfer seinen Job beherrscht, ob die Flüchtlinge heil im Westen ankommen oder ob sie bei der Flucht verhaftet oder erschossen werden. Die Gesinnung ist dem gegenüber absolut zweitrangig. Leider haben die Medien dieses Bild übernommen. Daraus ist das negative Image der Berliner Fluchthelfer ent­standen, das über viele Jahre bestand.

© Dominik Butzmann, Berlin

ad hoc: Das heißt, ab 1963 hat sich das negative Bild des Fluchthelfers festgesetzt?

Veigel: Total. Wenn du vor sechs Jahren jemanden auf Flucht­ helfer angesprochen hast, war das Bild noch immer negativ. In den fünf Jahren, seitdem ich hier in Berlin bin und trommle, hat sich das Bild sehr verändert. Fluchthilfe gilt jetzt als ehrenvoll. Nicht umsonst haben wir das Bundesverdienstkreuz erhalten.

ad hoc: Heute ist weniger von Fluchthelfern die Rede als von Schleusern, Schleppern oder Schlepperbanden. Wie kann man differenzieren?

Veigel: Wir Fluchthelfer an der Berliner Mauer haben Men­schen über Grenzen aus einem Land gebracht, aus dem sie nicht raus durften. Die heutigen Schlepper bringen Menschen über Grenzen in Länder, in die sie nicht rein dürfen. Unsere Flücht­linge waren im Westen willkommen. Die Menschen, die von den Schleppern hereingebracht werden, müssen sich verbergen oder um Asyl bitten. Aber sie bewirken für die Flüchtlinge etwas Ähnliches wie wir damals: Sie helfen Menschen in Not, nur mit einem anderen Touch. Wenn wir gewusst hätten, dass Gesetze gebrochen werden, hätten wir wahrscheinlich keine Flucht­hilfe geleistet, und wäre es verboten gewesen, hätten wir sicher auch Geld genommen wie die Schlepper heute. Ich sehe diese nicht negativ. Warum hat ein Deutscher, weil er hier geboren ist, mehr Rechte als jemand, der aus Afrika hierherkommt? Der muss genauso geschützt werden. Ich kann nicht akzeptieren, dass man die Menschen, die vom Mittelmeer kommen, heraus­ halten will und zurücktransportiert. Im Zeichen der Humanität müsste man sehr viel großzügiger sein.

ad hoc: Sie haben über 600 Menschen zur Flucht verholfen. Was, würden Sie sagen, bedeutet Flucht für einen Menschen?

Veigel: Damals hat es unglaublich viel bedeutet, aber es hat lange gedauert, bis die Flüchtlinge den Fluchthelfern Dankbarkeit entgegengebracht haben. Wir haben mit ihnen auch keine Verbindung gehalten. Das war ohnehin schwierig, weil sie ja nicht wissen konnten, wie wir heißen. Wir hatten alle Deck­ namen. Ich hieß „Schwarzer.“ Die Dankbarkeit kam sehr viel später. Dass sie so spät kam, habe ich mir so erklärt, dass sich Menschen während der Flucht einen Kokon anlegen. Alle Gefühle werden ausgeschlossen, Angst, aber eben auch Dank­ barkeit. Die Flüchtlinge legten ihr ganzes Leben in die Hand des Fluchthelfers. Sie mussten Vertrauen haben.

ad hoc: Wie bei einem Arzt.

Veigel: Noch schlimmer. Beim Arzt kannst du dich erkundigen, ob der Erfahrung hat. Die Flüchtlinge wussten oft nicht, auf welche Weise sie flüchteten. Sie mussten Vertrauen haben, aber sie hatten es auch. Es ist eine seltsame Konstruktion, die Ge­fühle abzuschalten, um funktionieren zu können.

ad hoc: Was bedeutet für Sie Grenze?

Veigel: Eine von anderen Menschen gezogene Grenze, die für mich nicht unbedingt gilt. Eine Grenze kann ich akzeptieren, aber sie ist keine Bremse.

ad hoc: Fluchthelfer sind permanente Grenzgänger. Kann man sagen, dass sie sich nicht nur über Staatsgrenzen hinweg setzen, sondern auch über rechtliche Grenzen?

Veigel: Uns waren damals rechtliche Grenzen egal. Wir haben geholfen, weil wir einfach helfen mussten. Dass wir und unsere Aktivitäten durch den sogenannten „Übergesetzlichen Not­ stand“ geschüzt waren, habe ich erst später erfahren. Er besagt, dass an sich ungesetzliche Mittel eingesetzt werden dürfen, um das Grundrecht eines Menschen auf Freizügigkeit wiederher­ zustellen.

ad hoc: Haben sich deutsche, speziell westdeutsche, und ausländische Unterstützer in der Art, wie sie Hilfe leisteten, unterschieden?

Veigel: Eindeutig. Die Westdeutschen haben gefragt, „ist das auch legal, was Sie da machen?“ Diese Frage habe ich nie von Ausländern gehört, obwohl gerade sie nicht durch einen „Übergesetzlichen Notstand“ gedeckt waren und sich strafbar gemacht haben, wenn sie uns ihren Pass gegeben haben. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? In Frankreich oder Tschechien sagen sie: Unser Gesetz ist schön und gut, aber ich mache es jetzt einfach mal so. Das Römische Recht ist in Deutschland die Heilige Kuh, die man nicht schräg anschauen darf. Gesetze können einen Nationalcharakter formen. Wir haben eine Kultur des Ängstlichen und Alles­-Richtig­-Machen­ Wollens. Ich möchte den Deutschen gerne sagen: Kommt endlich weg davon, dass man sich pingelig an jeden Buchstaben des Gesetzes halten muss!

ad hoc: Dublin II regelt, dass Flüchtlinge in der EU dort Asyl suchen müssen, wo sie zum ersten Mal über die Grenze treten. Das führt dazu, dass Verantwortungen verschoben werden und die Menschen in ein ungeregeltes ‚Dazwischen‘ fallen, wo niemand entscheidet. Was würden Sie diesen ‚Herren Niemand‘ sagen?

Veigel: Wenn ihr es schon nicht schafft, die Verhältnisse im Herkunftsland des Flüchtlings so zu verbessern, dass er nicht zu uns kommen will, dann müsst ihr wenigstens dem einzelnen Menschen, der die Flucht über das Mittelmeer geschafft hat, helfen. In der Europäischen Union sollte jeder, der rein will, auch das Recht dazu haben. In Kanada zum Beispiel muss man nach einem halben Jahr auf eigenen Beinen stehen. Das hilft für die Integration in die Gesellschaft. Ich möchte diejenigen unterstützen, die etwas wollen. Die Menschen, die kommen, wollen in Sicherheit leben, sie sind intelligent und wollen arbeiten. Ein Lehrer auf Lampedusa erzählte mir: Nach einem Jahr sind meine afrikanischen Schüler besser als meine italie­nischen.

ad hoc: Wie empfinden Sie die Politik der Europäischen Union: Flüchtlingsabwehr- oder Flüchtlingsrettungssystem?

Veigel: Wir sind auf Abwehr ausgerichtet. Die UN ist eine Staatsschutzorganisation. Dublin II und Frontex genauso. Wir machen uns von Beamten abhängig, die keine Ahnung haben, was los ist, die beurteilen, was jemand hinter sich hat.

ad hoc: Was ist Ihrer Meinung nach heute die Aufgabe der deutschen Politik in der Europäischen Union oder anders gefragt: Was erwarten Sie von Deutschland?

Veigel: Dass man sich nicht nur an den vier Jahren des Ge­ wähltseins orientiert. Ich erwarte von Deutschland, dass man versucht, Lösungen politisch durchzusetzen und nicht nur durch Nichtregierungsorganisationen oder Hilfsorganisati­onen. Das erwarte ich von der Regierung, aber auch von der Gesellschaft. Auch die Gesellschaft sollte auf geistiges Weiter­ kommen erpicht sein.

ad hoc: Herr Veigel, wir danken Ihnen für das Gespräch.