7. Oktober 2014

Keine „Rain Men“, trotzdem gut: Autisten als IT-Berater

Meine letzte Mercator-Stage habe ich bei der auticon GmbH absolviert, einem Unternehmen, das  Menschen im Autismus-Spektrum als IT-Berater beschäftigt. Die Idee des Gründers und Geschäftsführers Dirk Müller-Remus, selbst Vater eines autistischen Sohnes: Die außergewöhnlichen logisch-analytischen Fähigkeiten von Menschen im Autismus-Spektrum nutzen, um sie als professionelle IT-Spezialisten auf dem ersten Arbeitsmarkt einzusetzen. Wie kann das funktionieren?

auticon ist in vielerlei Hinsicht anders als andere Unternehmen. Das fängt schon bei den Bewerbungen an. Wer sich bei auticon bewirbt, der wird auch zu einem Gespräch eingeladen – egal wie die schriftlichen Unterlagen aussehen. Job-Coach Elke Seng: „Wir hatten schon Bewerber, die haben uns einfach nur eine Zeile geschrieben: Mein Name ist soundso und ich bewerbe mich bei Ihnen als Autist. Kein Anschreiben, kein Lebenslauf, keine Zeugnisse. Aber die laden wir dann trotzdem ein.“ Im Bewerbungsgespräch und einer eintägigen Kompetenzanalyse, die gemeinsam mit Wissenschaftlern der FU Berlin entwickelt wurde, müssen die Bewerber dann ihre IT-Kenntnisse unter Beweis stellen.

Durch das mehrstufige und besonders durchlässige Auswahlverfahren soll sichergestellt werden, dass kein geeigneter Kandidat durchs Raster fällt und jeder Bewerber eine echte Chance erhält. Elke Seng: „Einige unserer besten Mitarbeiter sind Autodidakten. Die haben sich das Programmieren selbst beigebracht. Die Fähigkeiten der Bewerber sind allein anhand der schriftlichen Unterlagen oft schwer zu beurteilen.“ Viele Bewerber sind vor Ihrer Anstellung bei auticon langzeitarbeitslos oder frühverrentet. Nicht wenige blicken auf eine lange Leidensgeschichte voller Frustrationen zurück.

So wie Marko Riegel, der Anfang 2012 als einer der ersten Berater von auticon eingestellt wurde. Nach der Schule ging er nach Rostock, um ein Studium der Elektrotechnik anzufangen. Damals war Riegel zwar noch nicht als Autist diagnostiziert, ahnte aber schon, dass er „irgendwie anders“ ist. Das Studium scheitert schon nach einem Semester: Vorlesungen besuchen, Klausurvorbereitung machen, dazu den eigenen Haushalt organisieren und neue soziale Kontakte knüpfen –  mit dieser Selbstorganisation ist Riegel überfordert. Trotzdem wagt er im Anschluss noch einen zweiten Anlauf: Kulturwissenschaften in Leipzig. Doch wieder kommt das Ende, diesmal nach sieben Semestern.

Für einige Jahre macht Riegel danach elektronische Musik. Er legt auf und betreibt ein Plattenlabel, kann sich damit aber kaum über Wasser halten: „In dem Bereich muss man viele Hände schütteln, ständig überall dabei sein und wissen, was läuft. Das konnte ich nicht, das bin ich einfach nicht.“ Dann gerät sein Leben vollends aus den Fugen: Riegels Beziehung scheitert nach 14 Jahren, er fängt an zu trinken. Der Alkohol hilft ihm, die Reize abzuschwächen, die ständig auf ihn einprasseln und die er nüchtern schwer ertragen kann. „Die Filter hochfahren“ nennt Riegel das. Nach einiger Zeit Im Alkoholsumpf entschließt Riegel, sich endlich einem Diagnoseverfahren zu stellen. Der Verdacht bestätigt sich: Asperger-Autismus. Danach folgt der Alkoholentzug, seit 2009 ist Riegel trocken.

Bei auticon unterstützen Marko Riegel heute Job-Coaches wie Elke Seng. Die Job-Coaches sind das Bindeglied zwischen den autistischen Beratern von auticon und den Kundenunternehmen, bei denen sie tätig sind. Sie unterstützen die Consultants in kommunikativen Fragen und bei der Schaffung eines reizarmen Arbeitsumfeldes: „Die meisten unserer Berater vermeiden direkten Blickkontakt, mögen kein Händeschütteln oder Small Talk und sind sehr geräuschsensibel“, so Elke Seng. Aber sie legt auch großen Wert darauf, dass man nicht verallgemeinern kann: „Jeder ist anders. Ich sag immer: Kennste einen Autisten, kennste genau Einen.“  Auch die Kunden bereitet sie vor: „Es gibt oft unbegründete Sorgen: ‚Können wir die überhaupt ansprechen? Müssen wir hier bei uns jetzt alles umbauen?‘ Wir helfen, solche Vorbehalte schon im Vorfeld auszuräumen.“ Häufig muss sie aber auch überzogene Erwartungen der Kunden dämpfen: „Einige denken, sie bekommen da jetzt einen ‚Rain Man‘ hingesetzt, der alles kann und jedes Problem löst. So einfach ist das natürlich auch nicht.“

Die Idee von Unternehmensgründer Dirk Müller-Remus funktioniert: „Wir sprechen insbesondere Unternehmen an, die Software und Anwendungen für die eigenen Prozesse oder für ihre Kunden entwickeln und die idealerweise bereits eine Trennung zwischen Entwicklung und Qualitätssicherung eingerichtet haben.“ Seit der Gründung im November 2011 hat auticon neben dem Hauptsitz in Berlin noch fünf weitere Standorte in München, Stuttgart, Frankfurt, Düsseldorf und Hamburg eröffnet. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 54 Mitarbeiter, darunter 33 Berater im Autismus-Spektrum.

Viele der Kunden – darunter Großunternehmen wie Vodafone und Telekom – schätzen die besonderen Fähigkeiten der autistischen Berater von auticon: Außergewöhnliche Konzentrationsfähigkeit, schnelle Muster- und Fehlererkennung, hohe Präzision, Blick fürs Detail. Auch Preise hat das Unternehmen schon haufenweise abgeräumt, zum Beispiel die KfW-Auszeichnung „Gründer-Champions 2012“ und den „IQ-Preis 2013“ des Hochbegabten-Vereins Mensa. Auf dem G8 Social Impact Investment Forum 2013 wurde auticon als Investitionsbeispiel vorgestellt. Trotzdem hat Müller-Remus für die Zukunft noch viel vor: „Nur 5-10 % aller Autisten sind auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Das wollen wir ändern. Diese Menschen haben herausragende Fähigkeiten, mit denen sie ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Bei auticon bekommen viele Autisten zum ersten Mal die Anerkennung, die ihnen zusteht.“