1. Juni 2016

Perspektivwechsel Ägypten: Europa entzaubert

Aus europäischer Sicht scheint die Lage derzeit grimm: Hohe Arbeitslosigkeit, niedriges Wachstum und tiefe Einschnitte in den Sozialstaat in den südlichen Mitgliedstaaten der EU; Brexit im Nordwesten; überall erstarkende Demagogen und immer offener zur Schau gestellte Fremdenfeindlichkeit.

In der Eurokrise und im Umgang mit Geflüchteten hat sich Europa durch- gewurschtelt. Gleichzeitig muss sich die EU der Kritik stellen, dass in den vergangenen Jahren Millionen Menschen verarmt sind und die Jugendarbeitslosigkeit seit 2008 um ein Drittel gestiegen ist – und dass noch nie mehr Menschen bei dem Versuch, in die EU zu gelangen, gestorben sind. Von der „südlichen Nachbarschaft“ aus gesehen, schillern diese Probleme ambivalent. Für viele Ägypter bleibt Europa ein gelob- tes Land, in dem sie gerne leben und arbeiten würden. Ein Vier- tel der jungen Männer in Ägypten will auswandern, Europa ist nach den Golf-Staaten das zweithäufigste Wunschziel.
Das liegt vornehmlich daran, dass die Ägypter ihr eigenes Land noch um einiges grimmer wahrnehmen, als die Europäer Europa. Die Hoffnungen des arabischen Frühlings sind einer neuen Militärdiktatur gewichen, die, stärker noch als das Mubarak- Regime, die Zivilgesellschaft drangsaliert, Journalisten krimina- lisiert, die Künste unterdrückt und jegliche Form der politi- schen Meinungsäußerung verbietet. Zusätzlich häufen sich die wirtschaftlichen Probleme. Der Tourismus ist fast völlig zum Erliegen gekommen, die Investitionen in den „neuen“ Suezkanal haben sich als Flop erwiesen und das ägyptische Pfund ist auf dem Schwarzmarkt kaum halb so viel wert wie noch im Jahr 2011. Statt die veraltete Infrastruktur zu modernisieren, baut die Regierung dieses wasserarmen Landes eine riesige Retortenstadt in der Wüste.

Kairo, 2011: Demonstranten bei einer kurzen Pause in einem Zelt auf dem Tahrir-Platz. Bild: (flickr) Alisdare Hickson

Obzwar Europa weiterhin für viele den Traum eines besseren Lebens verkörpert, und verständlicherweise viele Ägypter kaum zwischen Europa und der EU unterscheiden, ist der Blick auf die EU selbst, als Institutionengeflecht, zunehmend negativ. Wo die EU einmal in politisch interessierten Kreisen als Vorbild für die Arabische Liga und regionale Integration hochgehalten wurde, pocht die „öffentliche Meinung“ nun auf absolute natio- nale Souveränität. Gerade älteren Generationen und Unter- stützern des Regimes ist die EU offenbar zunehmend suspekt.
Aber auch in jüngeren, gebildeten Kreisen in Ägypten hat die EU an Glanz verloren. Das hat viel mit dem Blick auf die EU vom Südufer des Mittelmeers zu tun. Denn von dort aus betrachtet, spielt vor allem die Abriegelung der „Festung Europa“ gegen- über (syrischen) Geflüchteten eine wichtige Rolle. Zusätzlich gibt es in Ägypten vielfältige persönliche Netzwerke und Verbin- dungen in Länder des Südens und Südostens Europas, in denen spätestens seit 2008 die EU-Mitgliedschaft mit Sparpolitik, Arbeitslosigkeit, und fallenden Einkommen in Zusammenhang gebracht wird. Fällt das Stichwort „EU“, erzählen mir viele meiner Bekannte Geschichten über vergebliche Arbeitssuchen oder die zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Freunde und Familienmitglieder in EU-Ländern.

Zu guter Letzt macht der Blick aus Ägypten deutlich, dass Institutionen versagen und Ordnungen zerfallen können. Eine Freundin sagte mir nach dem Brexit: „Eigentlich ist es traurig, dass Großbritannien aus der EU austritt, aber ich glaube, die wissen, was sie machen. Die EU wird bald auseinanderbrechen. Sie verlassen bloß das sinkende Schiff.“ Innerhalb der EU ist es kaum denkbar, dass so etwas passiert. Doch für jemanden, der Syrien oder Libyen vor den Bürgerkriegen erlebt hat und nun nicht wiedererkennt – oder in Ägypten an der Revolution teilgenommen hat, scheint ein Auseinanderbrechen der EU nicht besonders abwegig. Es gilt zu hoffen, dass dieser Blick als Prognose zu düster ist; als Weckruf sollten wir ihn aber ernst nehmen.