19. April 2016

Perspektivwechsel Brasilien: Katerstimmung im Land des Sambas

Brasilien und Europa eint mehr, als der erste Blick verrät. Viele Brasilianer haben europäische Wurzeln und schauen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen oft in Richtung der alten Heimat. Denn auch Brasilien kämpft mit Krisen auf vielen Fronten. Für die Lösung der Krisen zu Hause und in Europa plädieren sie für mehr Integration zwischen den Regionen. 

Sehr viele brasilianische Familien haben europäische Wurzeln. Sie kamen während der Kolonialzeit aus Portugal, Spanien und Frankreich; seit dem 19. Jahrhundert vor allem aus Deutschland, Polen und Italien. Obwohl konfessionelle und politische Beweggründe auch eine Rolle spielten, folgte der Großteil der europäischen Auswanderer der Hoffnung auf eine bessere ökonomische Zukunft. Sie flohen vor Armut und Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern. Für ihre Nachkommen ist Europa noch immer wichtiger Referenzpunkt. Wenn Brasilien heute auf das krisengeschüttelte Europa schaut, sucht es nach Impulsen für die Lösung der eigenen politischen und wirtschaftlichen Probleme.

Nach Jahren konstanten wirtschaftlichen Wachstums, das Brasilien das Hoffnungs-Prädikat BRICS-Staat bescherte, befindet sich das Land derzeit in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise. Die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff wurde im Mai 2016 im Rahmen eines Amtsenthebungsverfahrens vom Dienst suspendiert. Die Verfassungsmäßigkeit des Verfahrens wird nicht nur von Rousseffs Anhängern angezweifelt.

Zugleich belastet die prognostizierte Rezession von 4,3 Prozent und eine Inflation von 8,7 Prozent die Mittelschicht des Landes schwer. Die düstere Prognose hängt auch mit der schwächelnden Konjunktur in Europa zusammen. Trotz abgewertetem Real leidet die brasilianische Exportindustrie darunter, dass europäische Partnerländer im Zuge der Krise weniger importieren. Hinzu kommt eine Abnahme europäischer Direktinvestitionen, die insbesondere kapitalintensive Bereiche der Wirtschaft trifft. Dies trägt negativ zur bereits schwierigen Arbeitsmarktsituation und den steigenden Verbraucherkosten für Konsumgüter in Brasilien bei. Die einst als selbstbewusste Zeugnisse neugewonnener Stabilität und globaler Bedeutung gedachten Mega-Events – Weltjugendtag (2013), Fußball-WM (2014) und Olympische Spiele (2016) – lenken in den Jahren ihrer Umsetzung die globale Aufmerksamkeit nun ausgerechnet auf ein Brasilien in seiner größten Krise seit der Hyperinflation Mitte der neunziger Jahre.

Unsere nefiatInnen am Zuckerhut: Der 7. Jahrgang, 2015/16, kam Ende Mai zum Zwischentreffen in Rio de Janeiro zusammen, um sich mit brasilianischen Entscheidungsträgern über Gemeinsamkeiten zwischen der EU und Brasilien auszutauschen. // © Laura Scheske

Spricht man mit Brasilianern über Europa, wiederholt sich die Sorge um die zunehmende Fremdenfeindlichkeit. Die Architektin Maria-Julia de Sousa berichtet von offenen Anfeindungen, die sie in Spanien selbst erlebt habe, weil Menschen sie für eine Muslimin hielten. „Ich habe deutlich gespürt, dass ich offensichtlich nicht willkommen war. Das war eine schockierende Erfahrung.“ Ihr Freund Fernando Figueiredo ergänzt: „Brasilien ist immer ein Einwandererland gewesen. Integration und friedliches Zusammenleben vieler Kulturen ist ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Wir verstehen nicht, warum in Europa eine solche Furcht vor Fremden herrscht.“

Manche sehen in den wirtschaftlichen Krisen beider Regionen auch Chancen. Bei einem Gespräch mit dem Staatssekretär für Außenhandel der Regierung des Bundesstaates Goiás, William O’Dwyer, wird deutlich, dass Brasilien in einzelnen Sektoren durchaus von der eigenen wie auch der Krise in Europa profitieren kann. So ist die Agrarwirtschaft in den lndlichen Regionen, vor allem im mittleren Westen Brasiliens, weniger auf den europäischen Absatzmarkt angewiesen als andere Branchen. Die Schwäche der brasilianischen Währung verbilligt Exporte, auch im Vergleich zu Konkurrenzprodukten aus Europa, und steigert die Attraktivität der heimischen Lebensmittelindustrie gerade in stark nachfragenden Ländern wie Indien.

Als Staatssekretär O’Dwyer nach einer Empfehlung für Europa gefragt wird, antwortet er: „Wenn es eine brasilianische Erfahrung aus der derzeitigen Lage gibt, dann dass soziale Stabilität die Grundlage für wirtschaftliche Stabilität bildet.“ Für die Beziehungen zu Europa sei es jetzt wichtig, die Gespräche zwischen der EU und dem MERCOSUL (Gemeinsamer Markt des Südens) fortzuführen und mit neuer Energie zu beleben. Wichtig sei eine neue Qualität des Dialogs: ein gemeinsames Streben nach konkreten Ergebnissen und praktischen Lösungen. In Zeiten multipler Krisen beiderseits des Atlantiks sind verstärkte Kooperation und Integration vielleicht der Schlüssel, um beschädigtes politisches Vertrauen wiederzugewinnen und neue wirtschaftliche Chancen zu ergreifen. Damit würden enge Beziehungen zwischen Europa und Brasilien mehr als nur eine geschichtliche Etappe.