7. Mai 2013

Realität am Rande des Krieges

Ein Freund stellte mir vor ein paar Tagen eine ziemlich einfache Frage: Geht es dir gut? Mir geht es super, dachte ich instinktiv. Ich lebe seit 4 Wochen in Beirut, der schönsten Stadt im Nahen Osten, ich habe wunderbare Menschen kennen gelernt, genieße tolles Essen und der Libanon ist ein unglaublich schönes Land, in dem es so viel zu entdecken gibt. Wie könnte ich nicht glücklich sein?

Dann stellte ich mir selber die Frage: Geht es dir wirklich gut? Du lebst am Rande eines Kriegsgebietes, welches selber immer mehr ein Krisengebiet wird. Auf deinem Schreibtisch landen täglich neue Zahlen von mehr Flüchtlingen, Berichte von Kämpfen in Syrien, steigender Armut und Unruhen im Libanon. Du verfolgst ununterbrochen die Nachrichten und wirst auch dann auf den neuesten Stand gebracht, wenn westliche Medien sich und ihren Lesern gerade mal eine Auszeit gönnen. Mindestens 5 Tage die Woche bist du mit diesen Ereignissen konfrontiert, die um dich herum geschehen, und dabei geht es dir noch gut?

Es ist schwere Kost, die wir hier jeden Tag zu verdauen haben: Jeden Morgen vor dem Büro auf Hunderte von Menschen zu treffen, die vor Gewalt, Tod und Zerstörung geflohen sind, ihr ganzes Leben hinter sich gelassen haben. Zahlen, die wir täglich hören und lesen, werden Gesichter. Menschen. Schicksale. Die Gesichter dieser Menschen berichten von Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Es sind so viele Gesichter. So unbeschreiblich viele. Tausende in Beirut. Hunderttausende im Libanon. Über eine Million in der Region. Wir sehen diese Gesichter jeden einzelnen Tag. 

Wir kennen ihre Vergangenheit, ihr Leben in Syrien. Wir sehen ihre Gegenwart. Was wir uns nicht vorstellen können, ist ihre Zukunft. Wir wandern von Meeting zu Meeting und die Botschaft ist stets die gleiche: Das ist eine der schlimmsten Flüchtlingskrisen unserer Zeit. In einem Monat haben wir nicht mehr genug Geld, längst können wir nicht mehr alle versorgen, die Hilfe nötig haben. Es gibt kaum ein realistisches Szenario für die nächsten Monate, dass eine Verbesserung der Lage verspricht. Mehr Menschen werden kommen. Die humanitäre Lage wird sich verschlechtern und gleichzeitig werden wir noch weniger Ressourcen haben um zu helfen. Viele dieser Menschen, die alles, einfach alles in ihrem Leben verloren haben, werden sich selbst überlassen sein. Es ist ein beklemmendes Gefühl, mit dem Wissen der Fakten die Gegenwart dieser Millionen von Menschen zu betrachten und es ist unendlich traurig und entmutigend, mit diesen Fakten in ihre Zukunft zu sehen und machtlos zu sein.

Als wäre diese Situation nicht schon genug, ist der Syrienkonflikt inzwischen auch im Libanon angekommen. Er ist noch nicht ausgebrochen, doch jeder, der hier arbeitet, ist sich nur zu bewusst, dass das alles eine Frage der Zeit ist. Wir lesen die Nachrichten von Kämpfen an den Grenzen, von Unruhen in manchen Gegenden innerhalb des Landes jeden Tag. Wir leben in einem Pulverfass und die Geschichte hat gezeigt, dass dieses Pulverfass scharf ist.  Beruhigend ist dieses Wissen nicht.

Situationen wie diese haben die nah-östlichen Länder am Mittelmeer immer wieder erschüttert: Regionale Kriege und Bürgerkriege, Selbstmordattentate und Autobomben. Sie haben den Alltag der Menschen, die hier leben, gezeichnet. Im Libanon entdecke ich eine Lebensphilosophie wieder, die ich bereits in einem anderen Land kennengelernt habe. Einem Land, das dem Libanon so fern scheint und doch so ähnlich ist: Israel. Diese Lebensphilosophie lässt sich wohl treffend beschreiben mit „lebe als gäbe es kein Morgen“. Die Gesellschaften in beiden Ländern strömen eine unbeschreibliche Lebenslust aus. Das Leben hier scheint so viel intensiver und bejahender gelebt zu werden, als ich es irgendwo anders erlebt habe. Die Gegenwart wird gefeiert, denn niemand weiß, was der nächste Morgen bringt. Dieses Gefühl ist schwer in Worte zu fassen, aber es ergreift mich jedes Mal, wenn ich mich in einem dieser Länder aufhalte. Es ist ein Mechanismus, die zerbrechliche Realität, in der man lebt, zu verdrängen und zu vergessen. Es ist die einzige Möglichkeit, das Leben hier zu genießen und nicht verrückt zu werden.

Es ist der Mechanismus, den ich ebenfalls erlernt habe in den letzten Jahren, hier im Nahen Osten. Er hilft auch mir, mit den Fakten, die mir jeden Tag um die Ohren fliegen, umzugehen. Sie auch mal zu vergessen. Es ist eine andere Realität, in der man hier lebt, sie ist weit entfernt von jener in Mitteleuropa. Sie ist fragil und verlangt oft Opfer. Aber sie bietet auch eine Lebensfreude und –bejahung, die man in unseren Breitengraden nur noch selten findet.

Doch es gibt Momente, Tage, Wochen, da bricht der Mechanismus zusammen. Dann überrollen mich die Ereignisse und es fällt mir schwer, die Fassung zu bewahren.